Zehntausende Afghanen auf der Flucht: „Jetzt sind wir obdachlos“
Zehntausende Afghanen fliehen aus Pakistan zurück in die von den Taliban regierte Heimat. Sie stehen dort vor dem Nichts.
Er ist einer von Zehntausenden Afghanen, die vor dem von der pakistanischen Regierung gesetzten Stichtag am 31. Oktober „freiwillig“ nach Afghanistan zurückgekehrt sind. Seine 17 Familienmitglieder, darunter seine fünf Kinder und sieben Enkel, leben jetzt erstmal alle in einem Flüchtlingslager, das Afghanistans Behörden auf ihrer Seite der Grenze provisorisch errichtet haben.
Sulemans Familie gehört zu Millionen von Afghanen, die in den letzten Jahrzehnten nach Pakistan geflohen sind und es zu ihrer neuen Heimat gemacht haben. Sie haben dort einen Großteil ihres Lebens verbracht, sollten jetzt aber plötzlich wieder nach Afghanistan zurückkehren.
„Meine Frau und ich sind 1991 nach Pakistan geflohen, um der Brutalität der Taliban zu entkommen, ohne zu wissen, dass jetzt unsere Enkel das gleiche Schicksal erleiden, dem wir entkommen konnten“, sagt Suleman.
Die ersten Jahre waren besonders hart
„Unsere ersten Jahre in Pakistan waren sehr hart. Wir stammen beide aus wohlhabenden Familien in Afghanistan, aber in Pakistan arbeitete meine Frau als Hausmädchen, wusch Geschirr und schrubbte Böden bei Nachbarn in Karatschi. Ich arbeitete als Aushilfe auf dem Bau, schleppte Eisen, Ziegel und Zementsäcke,“ berichtet er. „Wir ertrugen die Entbehrungen, weil wir auf eine bessere Zukunft hofften. Wir arbeiteten härter und öffneten schließlich einen kleinen Kleiderladen. Der entwickelte sich zu einem Zwischenhandel. Unser Leben verbesserte sich allmählich, wir schauten stets nach vorn. Aber jetzt bin ich als Großvater nach 32 Jahren wieder ein Flüchtling.“
Am 3. Oktober forderte Pakistans Regierung 1,7 Millionen „illegale“ afghanische Flüchtlinge auf, freiwillig Pakistan zu verlassen. Sonst droht Abschiebung. Schon vor dem Stichtag 1. November gingen 200.000 von ihnen nach Afghanistan zurück, darunter viele, deren Familien schon Jahrzehnte in Pakistan lebten.
Laut Behörden gehe es nur um Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus. Aber Berichten zufolge werden auch Familien mit gültigen Papieren zur Ausreise gedrängt oder in Abschiebehaft genommen.
So hat Muhammad Salehs Familie alle legalen Papiere, aber trotzdem beschlossen zu gehen, nachdem die Polizei in Karatschi den 17-jährigen Sohn festgenommen hatte. Denn obwohl er Aufenthaltspapiere vorweisen konnte, saß er zwei Tage auf der Polizeiwache ein, was ihn zum Verlassen des Landes trieb.
„Es ist besser, zu verhungern und zu sterben, als unter falschen Anschuldigungen diskriminiert und festgenommen zu werden“, schimpft Saleh. „Ich bin in Pakistan mehrfach diskriminiert worden. Jedes Mal, wenn es in unserer Gegend ein Verbrechen gab, durchsuchte die Polizei unser Haus. Manchmal saßen wir tagelang ohne Anklage im Gefängnis. Genug ist genug.“
„Die Kinder wissen nicht, wie das Leben in Afghanistan ist“
„Wir mussten unser Haus und Geschäft für weniger als die Hälfte ihres Wertes verkaufen. Ich weiß nicht, ob es in Afghanistan Arbeit oder Geschäftsmöglichkeiten gibt. Wir haben Pakistan zu unserer Heimat gemacht und sind jetzt obdachlos. Schrecklich! Ich mache mir Sorgen um meine 15-jährige Tochter, die sich im letzten Schuljahr befindet. In Afghanistan wird sie nicht mehr zur Schule gehen können. Meine Kinder waren noch nie in Afghanistan und wissen nicht, wie das Leben dort ist“, sagt Saleh.
Obwohl Pakistans Behörden behaupten, ältere Menschen, Kinder und Frauen würden sorgfältig behandelt, kursieren in den sozialen Medien Aufnahmen von siebenjährigen Kindern in Abschiebezentren.
Pakistans Entscheidung, Afghanen abzuschieben, stößt auf heftige Kritik. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) warnt vor einer humanitären Katastrophe im nahenden Winter und angesichts der Wirtschaftskrise in Afghanistan. Millionen Menschen seien gefährdet.
Viele, die nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul 2021 nach Pakistan geflohen sind, haben keine gar Aufenthaltspapiere bekommen. Denn die Behörden waren mit so vielen Flüchtlingen überfordert und gaben Papiere auch deshalb oft nur gegen Bestechungsgelder raus.
Taliban: Pakistan soll „inakzeptables“ Vorgehen überdenken
Für die jetzt geplanten Ausweisungen hat Pakistans Innenministerium Abschiebelager in allen Landesteilen eingerichtet. Die afghanische Taliban-Regierung fordert Pakistan auf, sein „inakzeptables“ Vorgehen zu überdenken.
Der Taliban-Flüchtlingsminister, Khalil Haqqani, hat Pakistans Behörden um mehr Zeit gebeten zur Registrierung der Rückkehrer, ihrer Aufnahme in provisorische Lager und um für sie Arbeitsplätze zu finden. Denn beim Grenzübergang Torkham am Khyber-Pass stauen sich die Lastwagen voller Afghanen mit ihren Hausständen. Die Menschen wissen nicht, was sie erwartet.
Übersetzung aus dem Englischen von Sven Hansen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin