Zehn Jahre nach Terror in Paris: Kein abgeschlossenes Kapitel
Für Überlebende des terroristischen Angriffs auf den Konzertsaal Bataclan hat sich das Leben für immer verändert. Das gilt auch für ganz Frankreich.
Von denen, die vor zehn Jahren in Paris waren, hat niemand diesen Abend vergessen. Die Stunden der Ungewissheit, die schleichende Angst. Weil niemand weiß, was vielleicht noch passieren kann. Dann der Schock der Bilder im Fernseher: Überall Sirenen und Blaulicht, in Panik Flüchtende in den Straßen des 11. und 10. Stadtbezirks, Verletzte vor dem Bataclan, völlig verstört wirkende Menschen. Die in großer Besorgnis verschickten SMS an Angehörige und Bekannte: „Bist du in Sicherheit?“
Noch zehn Jahre später ist die Erinnerung an diese Stunden hellwach. Vor zehn Jahren erlebte die französische Hauptstadt den schwersten Terrorangriff ihrer Gegenwartsgeschichte. Im Pariser Konzertsaal Bataclan, auf den Terrassen mehrerer Cafés und vor dem Sportstadion in Saint-Denis tötete eine Dschihadistengruppe bei einer Welle von Anschlägen 130 Menschen. Mehr als 400 wurden verletzt.
Zehn Dschihadisten, fünf Franzosen, drei Belgier und zwei Iraker, kamen von ihrer Basis im belgischen Molenbeek mit Mietautos nach Paris und Saint-Denis, um im Namen des IS mehrere Anschläge zu verüben und so viele Menschen wie möglich zu töten. 130 Menschen starben, 413 wurden verletzt, zwei weitere Terroropfer begingen später Suizid.
21.19 Uhr: Im Stade de France von Saint-Denis außerhalb von Paris läuft ein Fußballspiel zwischen Frankreich und Deutschland, als ein Dschihadist vor dem Sportstadion einen Sprengsatz zündet. Eine Person und der Selbstmordattentäter kommen dabei um. Erst viel später wird der Täter als Ammar Ramdan Mansour Mohamad Al-Sabaawi aus Mossul, Irak, identifiziert.
21.22 Uhr: Ein zweiter Dschihadist, der Iraker Mohammad Al-Mohmod, zündet vor dem Stadion eine Bombe. Er stirbt bei der Explosion und verletzt zehn Menschen. Staatspräsident François Hollande, der mit dem damaligen Außenminister und heutigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier das Spiel verfolgt, lässt zunächst weiterspielen, um eine Panik zu vermeiden.
21.23 Uhr: Bei einer dritten Explosion werden drei Unbeteiligte verletzt. Der Terrorist stirbt.
21.24 Uhr: Im Pariser Stadtteil auf dem rechten Seineufer feuern Brahim Abdeslam, eventuell begleitet von seinem Bruder Salah Abdeslam, sowie Chakib Akrouh und Abdelhamid Abaaoud mit ihren automatischen Waffen auf dieTerrassen des Cafés Le Carillon und des Restaurants Le Petit Cambodge. 13 Menschen werden getötet.
21.26 Uhr: Dieselben Terroristen schießen ohne Vorwarnung auf die Gäste der Terrasse des Lokals La Bonne Bière und töten fünf weitere Menschen.
21.36 Uhr: Bei einem dritten Angriff auf die Terrasse des Restaurants La Belle Epoque sterben 21 Personen.
21.40 Uhr: Bei der vierten Attacke zündet Brahim Abdeslam im Comptoir Voltaire seinen Sprengsatz, drei Menschen werden schwer verletzt.
21.42 Uhr: Die drei Islamisten Foued Mohamed-Aggad, Ismael Omar Mostefai und Samy Amimout verschicken ein SMS „On y va, on commence“ („Wir sind da und beginnen“), bevor sie zu Tat schreiten. Im Konzertsaal Le Bataclan richten sie mit ihren Schusswaffen unter rund 1.500 Hardrock-Fans der Gruppe Eagles of Death Metal ein Massaker an. Insgesamt 90 Menschen sterben beim Angriff auf das Bataclan.
21.57 Uhr: Von den aus dem Bataclan Flüchtenden alarmiert, dringen ein Polizeikommissar und ein zweiter Beamter in den Konzertsaal, wo sie den Terroristen Samy Amimor töten. Während sie Verletzte aus dem Saal evakuieren, verschanzen sich die zwei anderen Terroristen im ersten Stockwerk mit elf Geiseln.
0.18 Uhr: Beim Sturmangriff von Angehörigen der Elitetruppen BRI und RAID werden die beiden Terroristen getötet, ihre Geiseln überleben. Vor dem Bataclan herrscht noch immer Chaos. Da die Krankenhäuser völlig überlastet sind, muss ein Teil der Verwundeten vor Ort medizinisch versorgt werden.
18. November 2015
Abaaoud und Akrouh werden in einer Wohnung in Saint-Denis bei einer Schießerei getötet. Abaaoud gilt als Koordinator der Attentate, die vom IS in Syrien beschlossen und geplant wurden. Bei den späteren Ermittlungen wird entdeckt, dass er nach dem Angriff auf den Bataclan-Saal weitere Attacken, namentlich gegen das Geschäftsviertel La Défense, vorgesehen hatte.
18. März 2016
Das letzte noch lebende Mitglied des Terroristenkommandos, Salah Abdeslam, wird im Quartier Molenbeek-Saint-Jean aufgespürt und verhaftet. In einem Pariser Vorort war ein Sprengstoffgürtel ohne Zündmechanismus entdeckt worden, den er vor seiner improvisierten Flucht in einen Mülleimer geworfen hatte.
29. Juni 2022
Abdeslam wird nach einem Prozess vor einem Sonderschwurgericht für Terrorismus zu lebenslanger Haft verurteilt.
Wie für die USA der September 2001 mit dem Attentat auf die Türme des World Trade Center ist für Frankreich das terroristische Massaker im Bataclan ein Markstein. Der 13. November 2015 wird im Nachhinein als eine Art Höhepunkt einer Welle von terroristischen Attentaten betrachtet. Der damalige Staatspräsident François Hollande sprach von einem „Krieg“, verhängte den Ausnahmezustand und reagierte mit Antiterror-Notstandsgesetzen, von denen ein Teil bis heute in Kraft ist.
Nicht mehr ganz dasselbe
Die Attacke hat in Frankreich offene Wunden hinterlassen, bis heute. Die Angst vor dem dschihadistischen Terror bleibt aktuell. Manche Leute wollen sich nicht auf die Terrasse eines Restaurants oder an einen Fensterplatz setzen, schauen ängstlich unter die Sitzbänke in der Metro oder meiden jede Ansammlung. Viele erzählen immer noch, dass ihnen Nahestehende mehr oder weniger direkt zu den Opfern gehörten oder bloß durch Zufall nicht an den Orten waren, wo die Terroristen ihren mörderischen Schrecken verbreiteten.
Noch immer laufen in den Straßen die Militärpatrouillen des Sicherheitsdispositivs Vigipirate. Am Eingang von Warenhäusern werden noch gelegentlich Rucksäcke und Handtaschen inspiziert. Auf das symbolträchtige Datum des Jahrestags hin hat die Regierung wegen akuter Risiken die Überwachung zusätzlich verschärft.
Frankreich ist seitdem nicht mehr ganz dasselbe. Die individuelle und die kollektive Erinnerung ist selektiv. Nicht alle schrecklichen Ereignisse prägen gleichermaßen. Warum spricht man mehr vom Bataclan als von den Opfern auf den Caféterrassen, warum ist beim 11. September 2001 fast nur vom World Trade Center die Rede, weniger aber vom Angriff auf das Pentagon?
Dieser Frage widmet sich die wissenschaftliche Studienserie „Remember“, für die ein Neuropsychologe und ein Historiker, Francis Eustache und Denis Peschanski, Hunderte von Gesprächen mit Attentatsopfern und Opfervereinigungen geführt haben. Die Studie versucht, besser zu verstehen, wie das Gedächtnis der Individuen und die kollektive Erinnerung der Gesellschaft funktioniert und mit der Verdrängung umgeht.
Angriff auf die Jugend, die Freiheit, die Musik
Alle fühlen sich angegriffen, aber nicht in derselben Weise, und nicht alle ziehen dieselben Schlussfolgerungen. Mehr noch als beim Attentat auf die Redaktion des Satireblatts Charlie Hebdo und bei der terroristischen Attacke auf den Laden Hyper Cacher im Januar 2015 erscheint bis heute in der gemeinsamen Wahrnehmung die Serie der Anschläge des 13. November wie ein pauschaler Angriff, der gegen alle hier gerichtet war. Das heißt: nicht spezifisch gegen eine andere Religion, Politik oder Institution, sondern gegen die Art, wie hier gelebt wird.
Frankreich war bereits zuvor Schauplatz von terroristischen Anschlägen gewesen. Die Attentäter griffen dabei ihrer Ideologie entsprechende Ziele oder Personen an. Am 13. November dagegen die Jugend, die Freiheit, die Musik, die Freude am geselligen Zusammensein und Feiern. Das Durchschnittsalter der Opfer betrug 35 Jahre.
Auf mindestens 1.500 wird die Zahl der Menschen geschätzt, die nach dem 13. November an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden. Zu ihnen zählen nicht nur die unmittelbaren Überlebenden der Anschläge, sondern auch die Angehörigen der Polizei und der Rettungsdienste, die mit dem Horror konfrontiert wurden. Für viele ist das Trauma eine Geschichte ohne absehbares Ende, obschon zwei Drittel von ihnen in den Monaten und Jahren danach mit Fachleuten Therapiegespräche führen konnten.
Mit Mitteln aus einem staatlichen Fonds wurden die meisten von ihnen finanziell entschädigt. Dass es auch Schwindler gab, die als angeblich Traumatisierte Ansprüche anmeldeten, ist eine unschöne Nebenerscheinung. Bis 2019 wurden 15 solche Betrüger gerichtlich verurteilt.
Schrecken an Leib und Seele
Der Fotograf David-Fritz Goeppinger, ein französisch-chilenischer Doppelbürger, der im Bataclan zu den von den Terroristen festgehaltenen Geiseln gehörte, hat zwei Bücher über seine schwierige Zeit danach und seine PTBS geschrieben. Er spricht darüber, wie von einer „chronischen Krankheit“. Es sei für ihn, als müsse er „mit einem toxischen Ding zusammenleben“, das regelmäßig das Unterbewusstsein und den Albtraum reaktiviere.
Ähnliches sagt Arthur Dénouveaux, der die Opfervereinigung Life for Paris gegründet und ebenfalls ein Buch veröffentlicht hat. Er ärgert sich über Kommentare wie „Das wird schon wieder gut!“ oder die Besserwissergesellschaft, die von den Opfern etwas drängend eine Art Resilienz erwarte, die am ehesten Nietzsches Motto „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“ gleichkomme.
Zwei Filme („Revoir Paris“ und „Novembre“) und eine gegenwärtig in Frankreich ausgestrahlte 8-teilige Fernsehserie, „Des Vivants“, möchten ebenfalls die Probleme der traumatisierten Überlebenden verständlicher machen. In der Studie „Remember“ wird unterstrichen, wie wichtig es für diese sei, dass sie nicht vergessen, sondern als Opfer anerkannt werden. Wie Kriegsversehrte. Mehr als alle anderen fürchten die bei den Attentaten Traumatisierten, dass sich der Horror des Terrors im Bataclan anderswo wiederholen könnte. Seither gab es weitere islamistisch motivierte Attentate. Jedes Jahr werden Pläne für Anschläge gerade noch rechtzeitig vereitelt.
Der 13. November 2015 ist kein abgeschlossenes Kapitel. „Plus jamais“ („Nie wieder!“) hieß es in Europa auch nach dem Ersten Weltkrieg. Und wie für die Veteranen und Opfer der Kriege ändern die Bücher, Filme, Beiträge von Historikern oder auch die Gedenkanlässe am Donnerstag nichts an dem Schrecken, den diese Menschen mit Leib und Seele erlebt haben.
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