Worüber die Medien nicht schreiben: Von der leisen Ahnung im lauten Abwasser
Alle schimpfen auf die Medien. Aber oft ist nicht eine fehlende Berichterstattung das Problem, sondern die zu kurze Aufmerksamkeitsspanne.

A ch, wie schön ist gefühlte Wahrheit. Wenn man nur eine leise Ahnung von irgendwas hat und die sich aber so super anfühlt, dass man einfach an ihrer Seite bleibt, sich so richtig schön an sie anschmiegt. Bis irgendwer um die Ecke kommt, mehr Ahnung hat, mit einem Fakt das schöne Gefühl kaputt macht und einen zurück in die Realität katapultiert.
Aber was zählt schon noch das real life? Mit einer Ahnung kann man heute einen globalen Tropensturm entfachen. Man muss die nur da hineinposaunen, wo gefühlte Wahrheit mehr als die halbe Miete ist, in der Kanalisation des Internet.
Es gibt eine Ahnung, die in diesen sozialen Abwassersystemen besonders häufig anzutreffen ist: die Ahnung, dass DIE MEDIEN nicht berichten. Ob Aufstand in Serbien, Brände in Griechenland, dies oder das, was im jeweils eigenen Wahrnehmungsraum grade so aufploppt – man empört sich über mangelnde mediale Aufmerksamkeit. Und das nicht nur unter notorischen Schwurblern, für die sowieso jeder Journalismus verdächtig ist, der nicht bei allem und jedem „Die Ausländer sind schuld“ sagt.
Sicher darf man sich wundern, welche Themen DIE MEDIEN zu Brennpunkten, Talkshowaufregern, Titelseiten, Kommentarclustern und Onlineschwerpunkten machen oder nicht.
Was habe ich in der Zeitung gelesen?
Doch so wie man schon im August vergessen hat, wie das Wetter im Juni war und ob man im April eine Erkältung hatte, vergisst man eben auch, was man vor zwei Wochen in der Zeitung oder vor zwei Stunden im Internet gelesen hat.
Ja, Medien unterliegen Trends, lassen sich von Bildern verführen, wiederholen Fehler, können die Finger schwer still halten und zeigen Ermüdungserscheinungen.
Aber in aller Regel ist die Empörung darüber, dass über irgendwas nicht berichtet wird, unbegründet. Was eher stimmt, ist der Grad der Aufgeregtheit, mit dem ein Thema behandelt wird.
In diesem Sommer ließe sich das sicher für das Thema Klimakatastrophe feststellen. Der Sommer in Deutschland hatte hitzefrei. Die Nordeuropäer erlebten einen Sommer, wie sie ihn bisher nur aus Südeuropa kannten. Die Südeuropäer erlebten heftige Unwetter mit Hagel, Sturm- und Starkregen, wie sie ihn noch nicht mal in Nordeuropa gesehen hatten. Und dennoch, eine gewisse Gewöhnung an Extremwetter ist genauso eingetreten wie über die Bombardierung ukrainischer Wohnhäuser. Auch in den Medien.
Schuld sind immer die Medien
Man scheint sich aber auch daran gewöhnt zu haben, DIE MEDIEN anzuklagen anstatt die Politik. Sind etwa DIE MEDIEN Schuld daran, dass der UN-Plastikdeal geplatzt ist? Sind DIE MEDIEN Schuld daran, dass die neue Regierung mehr Geld für Gaskraftwerke und Agrardiesel und weniger für erneuerbare Energien ausgibt?
Hat die Medienschelte aber wirklich auf allen Seiten zugenommen oder ist das nur meine gefühlte Wahrheit? Wahr ist auf jeden Fall, dass früher mehr Demo war. Hatte man vor dem Bau des Internets das Gefühl, zu diesem oder jenem wird zu laut geschwiegen oder falsche Politik gemacht, ging man auf die Straße und hoffte, damit in die Tagesschau zu kommen.
Heute reicht ein ausreichend aufgeregter Post und man kann sich der Aufmerksamkeit in den Kanälen sicher sein.
Dass sich keine Millionen Menschen vor dem Brandenburger Tor finden, die gegen die Klimapolitik der Regierung demonstrieren, daran jedenfalls sind nicht DIE MEDIEN schuld, sondern höchstens der Eindruck, dass es sich eh nicht lohnt.
Eine Gewöhnung an die Überzeugung, dass die Politik ja sowieso nichts macht, ist allerdings wenig gut. Damit macht man es sich ähnlich bequem wie mit der Anlehnung an die leise Ahnung, die man sich nicht durch Fakten kaputt lassen machen will.
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