Wissenschaftler über Hilfe nach Erdbeben: „Europa muss sehr vorsichtig sein“
Syrien fordert Nothilfe nach dem Beben. Ginge der Westen darauf ein, würde er das mörderische Regime legitimieren, warnt Konfliktforscher André Bank.
wochentaz: Herr Bank, braucht das Assad-Regime in Syrien nach dem Erdbeben unsere Hilfe?
45, ist Politikwissenschaftler am Giga-Institut für Nahoststudien in Hamburg. Er forscht zu Herrschaft und Konflikt im Nahen Osten.
André Bank: Assad hätte gern europäische und auch deutsche Hilfe, um sich international zu rehabilitieren und auch um innerhalb Syriens seinen Anspruch durchzusetzen, der über einen Großteil des Landes herrschende Präsident zu sein. Europa muss aber sehr vorsichtig sein. In früheren Krisen hat Assad Hilfsgelder und Hilfsgüter herrschaftspolitisch instrumentalisiert. Ein Großteil ist nicht bei den Bedürftigen angekommen, sondern ging an seine Klientel.
In Syrien gab es mehrere tausend Tote, nicht nur in den Rebellengebieten. Sie plädieren dafür, Bedürftige in Gebieten, die Assad kontrolliert, bluten zu lassen, nur um ihn nicht zu unterstützen?
Das ist eine schwierige Position, ich weiß. Aber auch für das bisherige „Bluten lassen“ in Regimegebieten ist fast ausschließlich Assad verantwortlich. Die Gefahr, dass er durch diese Krise seinen Status als internationaler Paria noch weiter verliert, ist sehr groß. Zudem ist es nicht so, dass dort gar keine Hilfe ankommt. Es gibt Hilfe von Russland, Iran, Algerien und anderen Ländern. Insofern ist die Versorgung dort zwar nicht gut, aber ein Stück weit gegeben.
Sie befürchten, dass Assad im Windschatten des Bebens auf die internationale Bühne zurückkehrt?
Nach zwölf Jahren Krieg gibt es heute ohnehin schon eine Wiederannäherung an Syrien. Im Dezember kam es unter russischer Vermittlung zu einem ersten Treffen der Verteidigungsminister Syriens und der Türkei, die der wichtigste Unterstützer der syrischen Opposition war. Auch Jordanien, das als erstes arabisches Land 2011 für einen Regimewechsel in Syrien plädierte, macht Schritte in diese Richtung. Selbst in Europa bröckelt die Front gegen Assad. Trotz der Menschenrechtsverletzungen und obwohl das syrische Regime sogar noch nach dem Erdbeben Stellungen im Rebellengebiet im Nordwesten Syriens bombardiert hat, kommt Assad Schritt für Schritt zurück.
Was ist über die jüngsten Angriffe bekannt?
Entgegen der Vorstellung, dass der Krieg vorbei ist, versucht die syrische Luftwaffe, das vom Regime kontrollierte Gebiet nach Norden hin auszuweiten. Es gab Berichte, dass es sogar Montag früh, kurz nach dem ersten großen Beben, Bombardierungen gab. Das Regime mordet weiter und hält Tausende Menschen in Foltergefängnissen. Deshalb sehe ich das größte Problem in einer Legitimierung dieser Regierung, die für die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen des 21. Jahrhunderts verantwortlich ist.
Zurück zum Beben: Warum unterscheiden Sie zwischen westlicher Hilfe und Hilfe aus anderen Ländern? Die Gefahr der Instrumentalisierung durch Assad besteht doch generell.
Algerien und einige Golfstaaten, die Emirate zum Beispiel, haben Helfer mitsamt medizinischem Material direkt nach Aleppo entsandt. Europäische Hilfe würde stärker instrumentalisiert werden. Westlichen Helferinnen und Helfern wäre es nach jetzigem Stand nicht erlaubt, sich in Syrien frei zu bewegen. Es steht bislang gar nicht zur Debatte, dass westliche Ärzte vor Ort arbeiten.
Was will Assad dann?
Das Regime hat verlangt, dass technische und medizinische Hilfsgüter an die Regierung in Damaskus geliefert werden und diese sie dann verteilt. Da aber die mit Abstand bedürftigste Region in Syrien, die schon vor dem Erdbeben massiv unterversorgt war, der Nordwesten ist, sollte europäische Hilfe sich auf Idlib und Umgebung konzentrieren sowie auf die mit der Türkei alliierten Gebiete nördlich davon, rund um Afrin.
Wie können Sie so sicher sein, dass Assad Hilfe instrumentalisieren würde? Und was genau ist Ihre Befürchtung?
In der Coronapandemie hat Assad medizinisches Material, ab 2021 dann auch Impfstoffe, gezielt in Gebiete weitergeleitet, die für sein Regime besonders wichtig sind. Das sind die Hauptstadt Damaskus, Homs und Hama sowie das Alawitengebiet an der Mittelmeerküste und deren Hinterland. Viel weniger ist im Süden angekommen, wo 2011 der Aufstand begann, wie auch im Nordosten, wo kurdische Akteure aktiv sind und auch arabische Großfamilien leben, die für den Herrschaftserhalt Assads nicht so zentral sind.
Staatsnahe syrische Medien werfen dieser Tage dem Westen eine Politisierung von Nothilfe vor.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Und verbunden wird der Vorwurf dann vonseiten der Regierung und auch vom Vorsitzenden des Syrisch-Arabischen Halbmonds, der sehr eng mit dem Regime kooperiert, mit der Forderung nach einer Aufhebung der Sanktionen. Die Bitte um Hilfe wird also direkt gekoppelt mit dem Interesse, das gesamte Sanktionsregime gegen das Land zu unterminieren.
Um was für Sanktionen geht es genau?
Syriens Außenminister Faisal Miqdad und der Chef des Syrisch-Arabischen Halbmonds, Khaled Hbubati, haben gefordert, alle Sanktionen gegen Syrien aufzuheben. Humanitäre Hilfsgüter sind aber ohnehin von den internationalen Sanktionen ausgenommen. Die Versorgung mit Medizin, Decken, Wasser oder Grundnahrungsmitteln ist eigentlich nicht sanktioniert.
Trotzdem, sagten Sie gerade, sollte Europa nichts Derartiges nach Damaskus liefern. Aber sprechen wir über die Hilfe für den Nordwesten, die Sie befürworten.
Über den Grenzübergang Bab al-Hawa an der türkisch-syrischen Grenze kommt aktuell kaum Hilfe in den Nordwesten. Deswegen müssen dringend weitere Übergänge geöffnet werden. Es gibt entlang der Grenze zwanzig, von denen mindestens eine Handvoll in Betracht kommt, und zwar die, die direkt an das Rebellengebiet angrenzen und auf syrischer Seite nicht von Hai’at Tahrir al-Scham (HTS) kontrolliert werden. Das ist eine radikal-islamistische Organisation, die auf der EU-Terrorliste steht. Sie kontrolliert große Teile Idlibs.
Wer kontrolliert diese Grenzübergänge dann?
Man sollte sich auf jene fokussieren, die von Rebellen gehalten werden, die der Syrischen Nationalarmee nahestehen, einer Organisation, die moderater ist als HTS und sehr eng mit der Türkei kooperiert. Das hätte zwei Vorteile: Die Europäer müssten nicht mit Terroristen kooperieren, und man würde der Türkei Hilfsbereitschaft signalisieren. Denn um Hilfsgüter über die Grenze zu bekommen, wird eine sehr enge Abstimmung mit der Türkei nötig sein, zu der das Verhältnis der Europäer ja aktuell schwierig ist.
Damit wäre aber doch die Hilfe immer noch nicht in Idlib. Um den Menschen dort zu helfen, wird man an HTS nicht vorbeikommen.
Nicht komplett. In den letzten Jahren aber hat HTS private Hilfsorganisationen und die UN weitgehend machen lassen. Während der Pandemie hat HTS nur ganz am Anfang im März und April 2020 versucht, Hilfslieferungen an der Grenze zu kontrollieren und daraus ein Geschäft zu machen. Die UN sagten, wenn ihr das tut, gibt es keine Versorgung. Seither hat sich HTS zurückgehalten und einen pragmatischen Kurs verfolgt.
In Idlib haben sich schon vor Jahren Aufständische und Geflüchtete gesammelt. Es gibt dort keinen Staat, der nach der Katastrophe anpacken kann. Was ist die langfristige Perspektive für Nordwestsyrien?
Solange die militärische Konstellation im Syrienkrieg so bleibt, wird der Nordwesten abhängig bleiben von internationaler Hilfe. Insofern muss für die über 4 Millionen Menschen in dieser Region die Hilfe gewährleistet bleiben. Es ist auch zu bedenken, dass es unter den aktuellen Gegebenheiten – Stichwort Ukrainekrieg – sehr schwierig sein wird, weitere Flüchtlinge aus Syrien in Europa aufzunehmen. Die Menschen brauchen also eine Perspektive. Solange jedoch Assad an der Macht ist und die Tendenz hin zu einer Normalisierung seines Regimes nicht umgekehrt wird, lässt sich nichts Substanzielles ändern.
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