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Wirecard-Skandal vor einem JahrFrüh durchgeblickt

Schon 2008, zwölf Jahre vor dem Skandal, erahnte ein Blogger die Tricks von Wirecard. Warum kaum jemand seinen Verdacht ernst genommen hat.

Sitz der Wirecard AG in Aschheim bei München Foto: Frank Hoermann/SVEN SIMON/imago

Der 19. Juni 2020 ist gemeinhin bekannt als der Tag, an dem Wirecard zusammenbrach. Der Skandal um die buchhalterischen Tricks des börsennotierten Finanzdienstleisters ist einer der größten im Deutschland der letzten Jahre. Für eine Person jedoch war der 19. Juni des vergangenen Jahres kein Tag der Verunsicherung, sondern der Genugtuung.

Es geht um einen Blogger mit dem Internet-Alias „memyself­andi007“ („Ich, ich und ich“; der Name beruht auf einer Textzeile der US-Band DeLaSoul). Der hatte im Jahr 2008 als Erster den begründeten Verdacht geäußert, dass der Erfolg von Wirecard auf einem System von Luftbuchungen beruhen könnte; dass Verantwortliche sich durch fragwürdige Manipulationen bereicherten, was sich schließlich als korrekt herausstellte. Aber weder Ermittler noch Journalisten nahmen seine Kritik ernst. Mehr als zwölf Jahre ließ die Bestätigung auf sich warten, dass er die ganze Zeit richtig gelegen hatte.

Das Unternehmen Wirecard entsteht um die Jahrtausendwende als Zahlungsabwickler für Pornofilme und Glücksspiele im Internet. Jahrelang meldet die Firma aus dem Münchner Vorort Aschheim Rekorde bei Gewinn und Wachstum und avanciert so zum Börsenstar, rangiert zeitweise so hoch im Dax wie vorher die Commerzbank. Zwischenzeitlich will man sogar die Deutsche Bank übernehmen. Der Verdacht, die Bilanzen seien geschönt oder enthielten Luftbuchungen, kommt lange vor 2020 auf. Auch unverständliche Zukäufe werden bemängelt – doch Wirecard verweist stets auf unseriöse Börsenspekulanten: Diese wollten mit falschen Beschuldigungen und sinkenden Kursen Millionen verdienen.

Bis zum Juni 2020. Da verweigern Wirtschaftsprüfer dem Unternehmen ihr Testat – was so viel ist wie die Bescheinigung, dass in den Büchern alles mit rechten Dingen zugeht. Die Prüfer haben festgestellt, dass fast zwei Milliarden Euro fehlten. Damit gilt Wirecard von heute auf morgen als insolvent. Das wiederum vernichtet 20 Milliarden Euro an Börsenwert – mehr als 10.000 Anleger werden geschädigt.

„Warten wir ab, wie lange das funktioniert“

Der ehemalige Chef von Wirecard, Markus Braun, sitzt seitdem in Untersuchungshaft, sein Finanzvorstand Jan Marsalek ist auf der Flucht. Ein Untersuchungsausschuss im Bundestag bemüht sich seit Monaten aufzuklären, warum der Betrug über viele Jahre unentdeckt blieb. Und: Wer politische Verantwortung trägt für den Milliarden-Schaden und für die mangelnde Aufsicht der Wirecard-Bank, die seit Januar 2006 Teil der Wirecard-Unternehmensgruppe war. Analysten und Journalisten müssen sich fragen lassen, wie sie alle Anzeichen für den Betrug übersehen konnten – und so unfreiwillig zu Helfern wurden.

Für memyselfandi007 hingegen bedeutete das verweigerte Testat der Wirtschaftsprüfer die Bestätigung: Den Skandal, den er seit Jahren vermutete, gab es wirklich. Der Blogger bleibt bis heute im Hintergrund, tritt nicht mit Klarnamen auf, er möchte, wie er sagt, den öffentlichen Rummel um seine Person kleinhalten. Auf Anfrage der taz beantwortet er Fragen nur schriftlich, bleibt dabei anonym. Soweit wir wissen, ist er ein Mann, der irgendwo in Deutschland lebt und laut eigenen Angaben schon lange im Bereich Finanzdienstleistungen arbeitet. Er betreibt das englischsprachige Blog valueand­opportunity.com („Wert und Chance“).

Seine Geschichte beginnt mit einem Kommentar, den er im Mai 2008 im Börsenforum wallstreet-online.de verfasst – in einer Diskussion über „Wirecard – Top oder Flop“. Er schreibt: „Auf den ersten Blick eine der Wachstumsstorys … Gewinn 2007 fast verdoppelt … im ersten Quartal um 65 % gesteigert … 0 Steueraufwand … einfach paradiesisch!!!“ Fährt dann aber fort: „Die wichtigste Einheit des Unternehmens scheint zwar die Bank zu sein, reported wird aber wie für ein normales Unternehmen. Seitenweise werden irgendwelche Umbuchungen in der Vergangenheit erklärt, die aber auch nach mehrmaligem Lesen nicht verständlich sind. In der Konsolidierung verschwindet plötzlich fast 20 % des Umsatzes.“

Der Trick, den der Blogger bei Wirecard vermutet: Der Gewinn beruhe größtenteils auf Erhöhung selbst gestellter Vermögenswerte. Heißt: Zugekaufte Firmen, die weitgehend wertlos seien und die man bewusst überteuert erworben habe. Seine Vermutungen wiederholt er in seinem Blog. Das Fazit von memyselfandi007 im Jahr 2008: „Genaues weiß man nicht, aber es stinkt zum Himmel. Warten wir mal ab, wie lange das Spielchen noch funktioniert, langsam dürfte die Luft allerdings dünn werden.“

Zwei bis drei Stunden Aufwand

Wie lange hat er damals Geschäftsberichte lesen müssen, um seinen Blogeintrag zu schreiben? „Ich bin Finanzprofi“, sagt der Blogger heute. Er arbeite seit Langem im Finanzdienstleistungsbereich, allerdings nicht direkt in der Aktienanlage. „Das war daher nicht zu aufwändig. In der Regel verwende ich auf diesem Level einer Anfangsanalyse zwei bis drei Stunden. Ich hatte mir Wirecard ursprünglich als eventuell interessantes Aktieninvestment angeschaut, bin aber dann schnell auf die Ungereimtheiten gestoßen.“

Andere Nutzer im Netz aber unterstellen memyselfandi007 damals, er äußere sich nur deswegen kritisch, weil er auf einen sinkenden Wirecard-Kurs spekuliert habe. Das ist ein Manipulationsvorwurf, und zwar im Kern derselbe, den sich Wirecard später häufig gegen Kritiker zunutze machen wird. Memyselfandi007 entgegnet damals: „Irgendwelche inhaltlichen Argumente? Wer recht hat, wird sich später zeigen.“

Wirecard kann lange jede Kritik wegwischen – mit dem Argument, es handle sich um den Versuch der Manipulation

Der Finanzexperte und ehemalige Journalist, Jörn Leogrande, arbeitet zu diesem Zeitpunkt seit drei Jahren bei Wirecard. Als Texter ist er damals zuständig für das Verfassen des Geschäftsberichts. Leogrande spricht heute von Anweisungen, dass der Text „so sperrig, kompliziert und langatmig“ zu sein hatte wie möglich, damit ihn niemand lesen wolle. Davon schreibt er in seinem Buch „Bad Company“, das im Februar erschienen ist. Als er damals den Blogeintrag von memyselfandi007 las, sei er überrascht gewesen, sagt Leogrande der taz: Dieser unbekannte Blogger habe als „vielleicht einziger Mensch der Welt tatsächlich unseren Geschäftsbericht gelesen“. Er bekommt selbst Zweifel an der Erfolgsgeschichte des Unternehmens. Dennoch bleibt er bei Wirecard – bis zum Ende.

Leogrande sagt, er habe 2008 die Presseabteilung von Wirecard auf den Blogger aufmerksam gemacht. Die Kollegin habe abgewinkt: Das sei nur ein Blogger, den niemand ernst nehmen werde. Schon bei der Hauptversammlung von Wirecard im Juni 2008 jedoch gerät Wirecard erstmals in die Kritik. Ein Vorstand der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK), eines Interessenverbandes für kleinere Aktionäre, kritisiert, die Bilanzierung des Unternehmens sei irreführend. Das erzeugt einen Eklat, Handelsblatt und Manager Magazin berichten. „Innerhalb von Wirecard herrschte Endzeitstimmung“, erinnert sich Jörn Leogrande. „Alle dachten, das war’s jetzt, weil die Vorwürfe so massiv waren und immer klarer wurden.“ Der Kurs brach ein.

Jede Kritik wird weggewischt

Doch statt Wirecard bekommt zunächst der SdK die Probleme. Wie sich herausstellt, hat SdK-Vorstand Markus Straub schon seit einigen Wochen auf einen Kursverfall bei Wirecard gewettet. Später wird Straub zusammen mit einem weiteren ehemaligen SdK-Funktionär wegen Marktmanipulation und Insiderhandel in mehreren Fällen zu Gefängnisstrafen verurteilt. Offenbar haben auch sie die Analysen des Bloggers memyselfandi007 gelesen – und auf fallende Kurse spekuliert, während sie Wirecard öffentlich Bilanzmanipulation vorgeworfen haben. Wirecard stellt Strafanzeige und steht als Opfer da. Niemand untersucht daraufhin mehr die Vorwürfe gegen Wirecard selbst, Journalisten interessierten sich nur für die Geschichte korrupter Shortseller.

Anders die Kriminalpolizei. Sie beginnt, sich für den Blogger memyselfandi007 zu interessieren. Die Polizei ermittelt seine Identität, sucht ihn am Arbeitsplatz auf und vernimmt ihn in der Dienststelle. Das sei „eigentlich recht angenehm“ verlaufen, sagt memyselfandi007 heute. „Ich war ja als Zeuge geladen und da ich mit Bosler, Straub und Co niemals Kontakt hatte, gab es auch keine weiteren Nachforschungen.“ Er habe die Vorwürfe gegen Wirecard erwähnt, aber die Kriminalpolizei habe das lediglich zur Kenntnis genommen. Wirecard habe wiederum die Polizei gedrängt, seine Identität herauszugeben, was diese nicht getan habe.

Dann dauert es zwölf Jahre bis zu dem Skandal, den man 2008 hätte entdecken können. Während sich damals schon Spekulanten, die Polizei und sogar Wirecard selbst für den Blogger memyselfandi007 interessieren, wird seine Analyse medial weder auf- noch ernst genommen. Wirecard kann lange jede Kritik wegwischen – mit dem Argument, es handle sich dabei um einen Versuch der Manipulation.

Memyselfandi007 wäre bereit gewesen, Journalisten mit Hinweisen zu helfen, betont er. Er selbst habe übrigens weder Geld gewonnen noch verloren mit Wirecard. Er könnte heute leicht Lorbeeren dafür einsammeln, dass er Wirecard 2008 zu Recht in Frage stellte. „Ich habe keinerlei Ambitionen, mir öffentliche Anerkennung abzuholen. Ich möchte weiterhin die Freiheit haben, in meinem Blog kritisch zu bleiben.“ Dennoch: Den Zusammenbruch von Wirecard habe er verfolgt mit der „Genugtuung, dass dieser Betrugsladen endlich aufgeflogen ist“. Es sei mittlerweile nicht unüblich, insbesondere bei „zwielichtigen“ Firmen, dass man Kritiker hart angreift. Der Fall Wirecard sei ein warnendes Beispiel.

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