Winfried Kretschmann in den USA: In the Länd of the Free
Baden-Württembergs Ministerpräsident sucht den Traum vom grünen Wohlstand. Wird der von Sacramento bis Stuttgart geteilt?
A n einem heißen Oktobertag sitzt Winfried Kretschmann im Restaurant eines Hotels in der kalifornischen Hauptstadt Sacramento und nestelt unter dem Tisch herum, wo er versucht, seine offiziellen Schuhe gegen seine berüchtigten „Bequemlatschen“ zu wechseln. Am Vormittag hat der baden-württembergische Ministerpräsident Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom getroffen, danach eine Lunch-Laudatio auf dessen legendären Vorgänger Jerry Brown gehalten, auf Schwäbisch-Englisch („Diir Tschärri“), was ihn ziemlich herausforderte – und die Zuhörer auch. Er wirkt jetzt etwas mitgenommen.
Der Jetlag, und dann haben die beiden Demokraten ihm offenbar sehr unverblümt die Lage in den USA geschildert. Kurz gesagt: Die Republikaner driften mit oder ohne Trump ab, der Faschismus droht. Der Altlinke würde sagen, man müsse einfach wieder richtig links werden statt neoliberal. Aber je linker und gesellschaftsliberaler die Demokraten, desto stärker und irrer werden die Republikaner, desto intensiver wird ihr Kulturkrieg, der die Erosion der amerikanischen Demokratie vorantreiben soll. Newsom, ein San-Francisco-Patrizier, versucht in seiner öffentlichen Darstellung ein bisschen den Kennedy- und Obama-Spirit des sozialökologischen „Can Do“ zu verbreiten, aber im Hintergrund erlebt Kretschmann einen ziemlich ratlosen Mann.
Realpolitisch hat Newsom einerseits beachtliche Speicherkapazitäten für erneuerbare Energie aufgebaut, andererseits gerade aus Versorgungssicherheitsgründen die Laufzeit des letzten kalifornischen Atomkraftwerks verlängert. Diablo Canyon liegt am Pazifik und an der San-Andreas-Spalte, an einem Ort mit hoher Erdbebenwahrscheinlichkeit. Politische Zielkonflikte nennt man das, sie prägen die Gegenwart, der deutsche Vizekanzler Robert Habeck kämpft spätestens seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine damit – und Kretschmann praktisch seit seinem Amtsantritt vor inzwischen über elf Jahren. Immer ist irgendetwas anderes, das die eskalierende Klimakrise überschattet: die syrischen Kriegsflüchtlinge, die Pandemie, Russlands Krieg gegen die Ukraine mit seinen globalen Folgen.
Trotzdem am Grashalm ziehen
Auch wenn klar ist, dass die Möglichkeiten von Landespolitik deutlich geringer sind als die der Bundesregierung, so muss der derzeit weltweit einzige grüne Regierungschef – Österreichs Bundespräsident mal außen vor – regelmäßig mit dem Vorwurf leben, dass sich klimapolitisch in seiner Amtszeit bisher zu wenig getan hat. Kretschmann pflegt gern die Redewendung vom Gras, das nicht schneller wächst, wenn man daran zieht, als Verweis auf die Zeit, die auch drängende politisch-gesellschaftliche Prozesse brauchen. Aber trotzdem am Gras zu ziehen, das war ein oder der Grund für seine dritte Kandidatur als Landeschef.
Er holte dann im Frühjahr 2021 mit 32,6 Prozent das absolute Rekordergebnis der Grünen bei Bundes- und Landtagswahlen, hängte die einstige baden-württembergische Monopolpartei CDU (24,1 Prozent) ab und deklassierte die SPD (11 Prozent). Danach spielte er CDU, SPD und FDP in Koalitionsverhandlungen gegeneinander aus, und seither ist Ruhe im Karton, weil die CDU froh sein kann, überhaupt mitregieren zu dürfen. Während ein Berliner Spitzengrüner das Thema Kretschmann bereits am Abend des großen Wahlsiegs für erledigt erklärte, weil er ja nicht wieder antrete, will er immer noch durchstarten, was sich im Alltag so auswirkt, dass seine Leute ihn als deutlich ungeduldiger erleben als früher und bisweilen auch genervt sind, wenn er ihnen erklären will, wie sie ihren Job zu machen haben.
Kretschmann selbst weiß das, aber dann ist es halt auch so, dass sie ihn bekniet haben, doch bitte, bitte die Wahl noch mal zu gewinnen. Und praktisch alle sind da, wo sie heute sind, dank des „lieben Winfried“, wie er in jeder Rede genannt wird. Und das wiederum wissen die auch. Er ist das Zentrum von allem, der absolute Herrscher des Regierungshofstaats, und gleichzeitig wird er beherrscht, betüddelt, und spätestens um elf von seinen jungen Betreuerinnen ins Bett geschickt, damit er am nächsten Morgen nicht unausgeschlafen und schlecht gelaunt ist.
Kretschmann ist jetzt 74 und zieht das Delegationsprogramm eisenhart durch. Unis, Start-ups, Footballstadien, Konferenzräume: Während seine Minister leise vor sich hinbruddeln, dass sie ja auch mal was sagen könnten, hält er jede Rede. Vieles liest er einfach ab. Richtig gut wird es, wenn er den vorbereiteten Redetext Text sein lässt und mit Perikles kommt oder Platon. Kretschmann wirkt immer authentischer und auch politischer, je ernsthafter und grundsätzlicher er spricht.
Man kann überhaupt nicht sagen, dass es ruhig um ihn wird, alle wollen sie was von ihm. Aber einige wichtige Weggefährten sind mittlerweile weg oder anderswo, langjährige Minister und Vertraute wie Franz Untersteller, Edith Sitzmann, Theresia Bauer, Staatskanzleichef Klaus-Peter Murawski, Regierungssprecher und Stratege Rudi Hoogvliet, der die solitäre Stärke der Figur Kretschmann erkannt und im politischen Alltag in dauerhafte Macht transferiert hat. Jetzt ist gerade auch noch Hoogvliets Nachfolger Arne Braun ins Wissenschafts- und Kunstministerium gewechselt.
Über hundert Leute hat Kretschmann in seiner Delegation, Wirtschaft, Wissenschaft, diverse Minister wollten auch unbedingt mit. Es ist seine dritte Kalifornienreise, dieses Mal ist ein Abstecher nach Pennsylvania dabei. Was so eine Schnupperreise in die amerikanische Start-up-Welt der künstlichen Intelligenz, der Robotik oder des autonomen Fahrens konkret bringt, lässt sich nicht verallgemeinern.
The Länd and the Stätes
Das Obernarrativ soll jedenfalls lauten: Kalifornien und Baden-Württemberg sind die beiden supertollen Bundesstaaten beziehungsweise Bundesländer, die wirtschaftlich, technologisch und politisch vorn sind. Die einen sind eine der größten Wirtschaftsregion der Welt, und die anderen … auch ziemlich groß. Um die internäschonelle Bedeutung klarzumachen, hat man sich vom speziell in Berlin meist abschätzig gebrauchten Begriff „Ländle“ zu „The Länd“ umbenannt und die Reise unter das selbstbewusste Motto „The Länd & The Stätes“ gestellt. Knallgelbe Werbetafeln, Aufkleber, Koffer und sogar Hoodies mit dem Slogan machen die Reisegruppe vom Länd überall in den Stätes ästhetisch unterscheidbar.
„Leading by example“, mit gutem Beispiel vorangehen, so dass die anderen es dann nachmachen, das ist die kalifornische Formel, die Kretschmann auch für sein Bundesland beansprucht. Überall predigt er sein Mantra, dass nämlich „radikalster Klimaschutz“ in Baden-Württemberg die Welt nicht retten könne, weil das weniger als ein Prozent der globalen Emissionen ausmache. „Nur indem wir zeigen, dass Klimaschutz und Wohlstand zusammengehen, können wir erfolgreich sein.“ Der Bereich, in dem die planetarisch entscheidende energetische Transformation ins Postfossile sich vollziehen muss, ist für ihn nicht die Gesellschaft, schon gar nicht die menschliche Moral, sondern die produzierende Wirtschaft.
Kretschmann hat mit dem Argument der synergetischen Effekte von Geldverdienen und Planetretten über ein Jahrzehnt auf die baden-württembergische Wirtschaft eingeredet und ist ziemlich sicher, dass die das jetzt auch so sieht. Dennoch ist es ein weiter Weg von der Erkenntnis zur Umsetzung. Warum ist denn das kalifornische Start-up Tesla vorn dran mit seinen Elektroautos? Weil sie keine Benzinautos und daraus resultierenden Gewinne und Arbeitsplätze zu verteidigen hatten wie die deutschen und baden-württembergischen Autokonzerne und Gewerkschaften.
Das steht pars pro toto für die Lage. Es ist schwierig, gleichzeitig anzugreifen und zu verteidigen. Und den nötigen erneuerbaren Strom für CO2-neutrale Produktion gibt es auch noch nicht. Der langjährige Umweltminister Franz Untersteller hat ein Jahrzehnt um Windräder und Trassen für Windstrom aus dem Norden gekämpft, mit überschaubarem Erfolg.
Bis zum Ende der Legislatur
Kretschmann hat vor einiger Zeit angekündigt, die Legislaturperiode bis zum Ende vollzumachen. Wenn er gesund bleibe. „Ich bete jeden Tag für seine Gesundheit“, sagt der SPD-Fraktionsvorsitzende Andreas Stoch, 53, und grinst sich eins. Er sitzt in einer Flughafenlounge, es kann in Pittsburgh, Sacramento oder Los Angeles sein, das verschwimmt etwas. Der ebenfalls mitreisende CDU-Abgeordnete Winfried Mack sagt als Dauerbonmot, er wäre ja gern auch mal mit dem Bus gefahren, aber die Grünen würden halt einfach so gern fliegen.
Ob man die Anspielung verstehe mit dem Beten?, fragt Stoch. Der Ministerpräsident habe doch 2016 selbst für Kanzlerin Merkel … Ja, ja, verstehen wir schon, keine Sorge. Die wirkliche Pointe besteht darin, dass die Chancen der CDU und sogar die des potenziellen SPD-Spitzenkandidaten Stoch enorm steigen würden, falls Kretschmann wirklich durchzieht. Denn bekanntlich werden seit Jahren bei Landtagswahlen die Amtsinhaber bestätigt. Was neben der Bewertung von Person und politischer Leistung sehr wahrscheinlich auch daran liegt, dass viele Leute in der Landespolitik nur den Ministerpräsidenten kennen, die Opposition hingegen nicht und die Minister kaum.
Das wiederum liegt auch daran, dass die Landesmedien auf den Oberchef fixiert sind und werden – und der Rest wenig Sendezeit und Texte bekommt. Nun ist es so, dass Kretschmann ankündigen musste, dass er durchzieht, denn hätte er das nicht getan, hätte er eine Dauernachfolgediskussion ausgelöst, wäre eine Lame Duck und hätte weitgehend an Autorität eingebüßt.
Wer könnte ihm nachfolgen, wenn er das Amt aber doch während der Legislatur abgibt, und mit dem Bonus des amtierenden Ministerpräsidenten in die nächste Wahl gehen?
Eigentlich soll man möglichst nicht darüber reden, aber abends tut man es doch, beim Get-together in einem Hotel in Beverly Hills. Hier kostet ein Platz in der Parkgarage 55 Dollar pro Tag, vor dem Eingang liegen Leute im Schlafsack in den Bushaltestellen. Und an der Bar versucht eine Ministerin eine Amtskollegin ins Nachfolge-Gespräch zu bringen.
Cem Özdemir, Stimmenkönig im Stuttgarter Wahlkreis
Aber die Munkelannahme Nummer 1 lautet: Wenner will, no wird’s dr Tschemm. Aber erstens weiß man nicht, ob Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir, Jahrgang 1965, will, und zweitens ob das tatsächlich so stimmt. Jedenfalls war er bei der Bundestagswahl in seinem Wahlkreis Stuttgart der baden-württembergische Stimmenkönig und ist der einzige Grünen-Politiker außer Kretschmann, den fast alle im Land kennen. Kandidat Nummer 2 ist Andreas Schwarz aus Kirchheim unter Teck, Jahrgang 1979. Charismatisch sei er ja nicht, sagen alle, aber total okay. Als Fraktionsvorsitzender ist er nicht zu unterschätzen, da ja die Fraktion oder eben „meine Fraktion“, wie Schwarz gern sagt, den Ministerpräsidenten wählt. Die CDU hat zusagen müssen, dass sie jeden grünen Kandidaten mitwählt.
Nummer 3 ist Danyal Bayaz, der Finanzminister, Jahrgang 1983, und im Unterschied zu den beiden Schwaben ein Badener. „Mein neuer Star“, nennt ihn Kretschmann, der ihn nach der Wahl aus Berlin holte, um durch und mit ihm etwas frischer zu wirken. Der Plan ging auf. Bayaz kann ernst, lustig, seriös, locker, kann in fünf Minuten eine kurze Rede skizzieren, während ein anderer spricht, und dann das Kleine und das Große so zusammenbinden, dass es sitzt. Ein-, zweimal büxt er aus, etwa um in der Thomas-Mann-Villa in Pacific Palisades mit dem gerade dort weilenden Soziologen Andreas Reckwitz zu sprechen. Bei einer Abendveranstaltung in Los Angeles rappt er einen HipHop-Song zu seinem Fachthema (Geld), was am nächsten Tag das zentrale Gesprächsthema ist. Die einen sind begeistert, die anderen kotzen ab. Menschen halt.
Ob es nach einem Jahrzehnt Kretschmann eine grüne Hegemonie in Baden-Württemberg gibt, darüber gehen die Einschätzungen auseinander. Die CDU will weiter daran glauben, dass dies ihr Land ist und der Spuk ohne Kretschmann vorbei sein wird. Die Grünen sieht sie in den größeren und den Uni-Städten, die sie kulturell und politisch dominieren. Was das flache Land, die Kreise und die Kommunen angeht – denen stehen weiter überwiegend schwarze Chefs vor.
Der SPD-Fraktionsvorsitzende Stoch war bis 2016 Kretschmanns Kultusminister und hat als solcher erleben können, wie das Thema „sexuelle Vielfalt“ in seinem Bildungsplan zu einem Aufstand christlich-konservativer Leute führte. Das reichte bis zum voraufklärerischen Unfug, Kinder sollten zum Schwulsein umerzogen werden, und war schwer wieder einzufangen. Will sagen: Die kulturelle Diversität im Land ist weiterhin groß.
Andreas Stoch, Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion
Grüne und konservativ Gebliebene
„Ich glaube nicht, dass es eine grüne Hegemonie gibt“, sagt Stoch in der Flughafenlounge. Letztlich regiere Kretschmann seit 2016, also seit dem Ausscheiden der SPD aus der Regierung, „präsidial“ und sei notorisch entscheidungsschwach. Seine Wählerschaft bestehe eben nicht aus Grünen und grün gewordenen Leuten, sondern aus Grünen und konservativ Gebliebenen. Der eine Teil wolle tatsächlich grüne Politik, der andere aber wolle von grüner Politik verschont bleiben, beiden gebe Kretschmann unterschiedliche Zeichen. Ersteren mit einem ambitionierten Klimaschutzgesetz, dass es nun aber wirklich demnächst losgeht, Zweiteren mit regelmäßigem Lob für den bayerischen Amtskollegen Markus Söder oder christlichen und folkloristischen Signalen. Bisher habe er die beiden Teile der Kretschmann-Mehrheit erfolgreich in ihrem Glauben bestärken können, dass er ihr Mann sei.
Stoch hat als Spitzenkandidat 2021 eine verheerende SPD-Niederlage zu verantworten, allerdings zu einem Zeitpunkt, als die Bundes-SPD erledigt schien und alles darüber schmunzelte, dass Olaf Scholz sich „Kanzlerkandidat“ nannte. Seine Strategie für 2025 könnte sein, dass er die SPD als Alternative zu zwei konservativen Parteien verkauft.
Potenzieller CDU-Kandidat ist der Fraktionsvorsitzende Manuel Hagel. Der ist 34 und positioniere sich nicht als Gegenpol zu Kretschmann, sondern spiele über Parteigrenzen hinaus eine Art gelehrigen Schüler, mit der Idee, dass die konservativen Grünen-Wähler ihn als Kretschmann-Nachfolger wählen. Den „politischen Enkeltrick“, nennt Stoch das – mit sichtbarer Freude an diesem Bonmot. Ob Hagel den Trick wirklich anwenden kann, wird man sehen: Zum Standardrepertoire der meisten CDUler im Land gehört, die Grünen für „links“ zu halten. Standard von links, linksgrün und jugendgrün, ist es, den einzigen Ministerpräsidenten, den die Partei je hatte, als Konservativen zu framen. Grasgrüne Kretschmann-Kritiker haben bisweilen den Tenor: Eigentlich ist das keiner von uns. Was auf identitäres Ausgrenzungsdenken hinausläuft.
Aber wenn wir ausnahmsweise mal größer denken, könnte man es auch so sehen: Die Antwort auf den stärker werdenden Rechtspopulismus ist definitiv nicht Linkspopulismus, jedenfalls nicht, wenn man die liberale Demokratie verteidigen will und die soziale Marktwirtschaft voranbringen.
Die Antwort ist eine gemeinsame Zukunftserzählung, ist ein neuer amerikanischer, ein neuer bundesdeutsch-europäischer und vielleicht auch ein neuer baden-württembergischer Traum, den die grünen Wokies, die liberalen Individualisten, die kulturkonservativen Zwiebelrostbraten-Leute, die auf- und auch die abgestiegenen Arbeiter teilen können. Diesen Traum gibt es jenseits der während der USA-Reise dauergebrauchten Vokabeln „Transformation“, „Nachhaltigkeit“ und „Wohlstand“ noch nicht, schon gar nicht seine Realitätwerdung.
Platon und Froschkutteln
Winfried Kretschmann, wie er da in dem Hotel in Sacramento vor einem sitzt und nun glücklich seine Schuhe gewechselt hat, fungiert in dieser entscheidenden Zwischenphase als Platzhalter des neuen baden-württembergischen Traums, er ist die Figur des Gemeinsamen, der grün und konservativ sozialökologische Veränderung und Stabilitätswünsche zusammenhält, der Platon und Froschkutteln, Hannah Arendt und den Schützenverein, den Sound kalifornischer Innovationshubs und die Gesänge der Waldwanderfreunde zusammenbringt. Oder sogar im Austausch fruchtbar werden lässt.
Okay, das ist vielleicht over the top, aber ohne Zusammenhalt wird es nicht gehen, ohne Transformation auch nicht, weder mit einseitiger Fixierung auf die ökologische, noch auf die wirtschaftliche und auch nicht auf die soziale Frage. Gerade in Kalifornien kann man sehen, dass mit jeder guten Innovation nicht nur Lösungen, sondern auch neue, ungeahnte Probleme entstehen. Kretschmanns Erzählung ist die einer guten Zukunft durch Wirtschaftsinnovation und den grünen Daimler. Bleibt die Frage, was dann aus dem Wachstumsproblem wird. Linke Kapitalismuskritiker dagegen wollen schrumpfende Wirtschaft oder mehr Staatswirtschaft, bleibt die Frage, was aus Innovation, Wohlstand und dem Sozialstaat wird. Und über allem steht die Frage, wie demokratische Gesellschaften es aushalten, wenn transformiert wird, und vor allem auch, wenn nicht transformiert wird.
Pittsburgh, Pennsylvania, ist in diesem Kontext eine spannende Stadt. In Gebäuden der niedergegangenen Stahl- und Kohleindustrie arbeiten heute die Start-ups der Zukunftsbranchen: künstliche Intelligenz, Robotik, autonome Autos. Teile des Gelds der frühen Industriemilliardäre sind in Top-Unis geflossen, in denen Forschung und Umsetzung am Markt Hand in Hand gehen. Ziemlich unvorstellbar in Deutschland, dass einem 20-Jährige auf dem Campus der Carnegie Mellon University erzählen, wie sie gleichzeitig studieren und ihre Start-ups voranbringen. Worüber sie in Pittsburgh nicht sprechen, sind die Verluste, die die harte Disruption Anfang der 1980er Jahre gebracht hat. Die Stadt hat heute halb so viele Einwohner wie früher als fossiles Industriezentrum.
Finanzminister Danyal Bayaz fand Pittsburgh deshalb fast interessanter als Kalifornien, weil sich für ihn die entscheidende Frage für Baden-Württemberg ableitet: Wie kann man aus der derzeitigen Stärke heraus so handeln, dass es zum Wandel kommt, aber eben nicht zum brutalen Bruch? Das Problem ist: Je radikaler man Zukunftspolitik machen muss, desto größer können die gesellschaftlichen und sozialen Erschütterungen der Gegenwart werden. Je später man handelt, desto größer werden die Opfer. Und diesen Widerspruch politisch aufzulösen, ist die Herausforderung unserer Zeit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid