Willkommenskultur in Deutschland: Gekommen, um zu bleiben?
Nach dem Sturz des Assad-Regimes in Syrien hat Deutschland die Chance, ein neues Kapitel in der Migrationspolitik zu schreiben.
![Drei jugendliche syrische Flüchtlinge Drei jugendliche syrische Flüchtlinge](https://taz.de/picture/7442559/14/246502520-1.jpeg)
W enige Wochen nach dem Sturz des Assad-Regimes in Syrien weiß man in Deutschland immer noch nicht so recht, wie man mit hier lebenden Syrerinnen und Syrern umgehen soll. Einerseits will man die vor fast zehn Jahren zu uns geflohenen Menschen so schnell wie möglich wieder loswerden.
Andererseits weisen Fachpersonen aus dem Gesundheitssektor sowie der Wirtschaft und dem Gastgewerbe darauf hin, dass die bisherige Integrationspolitik durchaus erfolgreich war. Der Verlust syrischer Arbeitskräfte würde die Wirtschaft und Dienstleistungen empfindlich treffen. Bei nüchterner Betrachtung also könnte man damit Zukunftschancen für Deutschland verspielen.
Schon einmal wurden mit der Flüchtlingsrückkehr die Weichen falsch gestellt. In den 90er Jahren hatten mehr als 350.000 Vertriebene aus Bosnien und Herzegowina in Deutschland Schutz gesucht.
Sie waren Opfer der Verbrechen der „ethnischen Säuberungen“, deren Dimension in der deutschen Öffentlichkeit bis heute nicht bewusst ist. Bei der Eroberung Bosniens gingen die serbischen Soldaten und Freischärler wie die russische Soldateska heute in der Ukraine vor: Greife mit Artillerie an und töte.
Von 4,5 Millionen Einwohnern wurden aus den eroberten Gebieten in Bosnien insgesamt mehr als 2 Millionen Menschen zur Flucht gezwungen. Zehntausende wurden von der serbischen Soldateska getötet, vergewaltigt, in Lager gesteckt. Ab 1992 erreichten Hunderttausende Bosniaken und Kroaten, aber auch Kosovaren und serbische Kriegsdienstverweigerer Deutschland.
Hilfsbereitschaft im Sommer 1990
Die deutsche Bevölkerung war hilfsbereit. 1990 erinnerten sich viele der fast 20 Millionen Deutschen an ihre eigene Flucht 1944 aus den deutschen Ostgebieten, an die Entbehrungen, die Übergriffe, die Vergewaltigungen.
Die Menschen aus Ostpreußen, Schlesien und Pommern wussten, was es hieß, wehrlose Flüchtlinge zu sein. Die Hilfsbereitschaft war groß. Doch auch die Widerstände wuchsen. Zu viele Fremde wurden lästig. Vor allem, nachdem klar war, dass ein großer Teil der bosnischen Flüchtlinge Muslime waren.
Als Kriegsflüchtlinge eingestuft, sollten die Bosnier sofort nach einem Friedensschluss das Land wieder verlassen. Nach dem Friedensabkommen von Dayton im November 1995 sollten vor allem die Bosniaken, also die bosnischen Muslime, schleunigst zurück in „ihre Heimat“ gebracht werden. Es kam zum Teil zu ruppigen, „unschönen Szenen“ bei der Abschiebung.
Europäische Muslime wurden abgeschoben
Es sträubten sich vor allem die Frauen, in ihren Dörfern und Heimatorten, aus denen sie vertrieben waren, nach der Rückkehr ihren Vergewaltigern zu begegnen. Auch die in Konzentrationslagern gedemütigten überlebenden Männer wollten nicht zurückkehren. Zum Glück öffneten die USA, Kanada, Australien ihre Grenzen für die europäischen Muslime.
Die bosnische Diaspora dort hat sich gut eingelebt. Die sehr viel später aus Bosnien angeworben Arbeitskräfte gelten heute als leicht integrierbar. Das Bild Deutschlands ist bei den Bosniern deshalb bis heute zwiespältig geblieben, einerseits die Hilfsbereitschaft der Deutschen, andererseits mitleidslose Härte.
Komplexe syrische Identität
Liegen mit den Syrern die Dinge anders? Immerhin bewegt sich nach den anfänglichen Abschiebeaufrufen der Rechten jetzt die Diskussion in Europa wieder in eine akzeptablere Richtung. Jetzt sollte es nicht mehr darauf ankommen, die Flüchtlinge sogleich in ein Flugzeug zu setzen, um sie loszuwerden.
Man muss akzeptieren, dass es sich bei Syrien um eine multinationale und multireligiöse Gesellschaft mit einer langen Geschichte handelt, deren Komplexität nicht richtig verstanden wird.
In Syrien diskutierte man komplexe philosophisch-religiöse Fragen, als bei uns noch der Met aus Hörnern getrunken wurde. In Syrien war Aramäisch, die Sprache Christi, ebenso verbreitet wie Hebräisch, später dann Arabisch sowie andere Sprachen.
Reiches kulturelles Erbe Syriens
Syrien wie Ägypten, Judäa, Palästina und das Zweistromland gehört zu einer Region, in der alte Kulturen tief verwurzelt sind. Keineswegs sollte man gegenüber dieser historischen Tiefe respektlos und leichtfertig die eigene westliche Kultur als überlegen ansehen.
Die aufgeblasenen, primitiven Spielarten des islamischen Extremismus als die Kultur Syriens zu definieren, ist jedenfalls falsch und entspricht dem primitiven Denken der AfD auf der anderen Seite.
Wir sollten darauf achten, dass die syrischen Flüchtlinge in ihrer Komplexität betrachtet werden. Natürlich gibt es da alle Richtungen, Alawiten, hanafitische wie islamistische Muslime, Schiiten, Christen, Drusen und westlich denkende Kurden.
Es gibt aber traditionell auch jene gebildete und von den Assads fast völlig zerstörte Mittelschicht, die multikulturell geprägt war. Diese Mittelschicht konnte sich im europäischen Exil wieder etwas erholen.
Große Bereicherung für Deutschland
Diese reichhaltige syrische Gesellschaft könnte tatsächlich zu etwas Positivem führen: erstens, wenn sie richtig behandelt wird, zweitens, wenn die jetzige Führung in der Tat die Tradition wieder achten will, drittens, wenn sie die Islamisten in den eigenen Reihen in Zaum hält sowie viertens, wenn die umliegenden Staaten Ruhe geben.
Die deutsche Politik könnte sich auf ihre Pluspunkte besinnen. Fast eine Million mit Deutschland verbundene Syrer sind ein Pfund. Wenn die Ärzte und Intellektuellen, Techniker und Ingenieure, die bei uns Fuß gefassten haben, sich direkt oder von Deutschland aus für den Wiederaufbau engagieren, dann wäre das was.
Militärisch ist Deutschland natürlich keine Macht, immerhin aber kann Deutschland Know-how für den Wiederaufbau einbringen. Man denke nur an die vorbildliche Arbeit des Technischen Hilfswerks.
Auch bei Eigentums- und Rechtsfragen hatte man auf dem Balkan zu vielen Lösungen beigetragen. Doch eine Rückkehrstrategie sollte vor allem Respekt gegenüber einer Gesellschaft zeigen, die sich erst wieder finden muss.
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