„Wilder Westen“ in Computerspielen: Entfesselter Mythos
Seit den 70er Jahren ist der „Wilde Westen“ ein Game-Thema. Meist beschränken sich die Spiele auf Klischees. Allmählich wird die Legende hinterfragt.
Der „Wilde Westen“ in Videospielen beginnt mit einem Skandal. 1982 veröffentlicht das Entwicklerstudio Mystique „Custer's Revenge“. Darin müssen Spieler*innen den namensgebenden General George Custer steuern und bekommen Punkte, wenn sie eine gefesselte amerikanische Indigene vergewaltigen. Auf der Spielverpackung heißt es: „Hilfe von George ist auf dem Weg. Bei Gott! Er kommt“. Mehr als 80.000 Mal wurde das Spiel verkauft.
Der 1876 in der Schlacht vom Little Bighorn getötete Custer wurde lange Zeit als US-amerikanischer Held verklärt. Erst ab den 1970er Jahren wurde der Custer-Mythos durch Filme und Forschung dekonstruiert. Aber Videospielentwickler*innen machten daraus noch in den 80er Jahren eine Rache- und Vergewaltigungsfantasie.
Ähnlich zu Westernfilmen, die sich an Dime Novels und Romanen wie Owen Wisters „The Virginian“ orientiert haben, reproduzieren auch Videospiele Bilder und Motive aus Westernfilmen oder verweisen auf Gemälde der Hudson River School, sagt Sören Schoppmeier von der Freien Universität Berlin. Er forscht zur Reproduktion US-amerikanischer Kultur in Videospielen.
Westernszenarien waren für Entwickler*innen in den 70er und Anfang der 80er Jahre eine Goldgrube. Trotz der begrenzten Technik sind ikonische Figuren und Objekte auch nur mit wenigen Pixeln erkennbar: ein Kaktus, ein Revolver, ein Cowboyhut. „Spielehersteller boten den Kund*innen damit vertraute Bilder und mit digitalen Revolverduellen Anreize, möglichst viel Geld in die Spielautomaten zu werfen“, sagt Schoppmeier. Mit einer faktengetreuen Darstellung des Lebens in der Frontier hatte das meist nichts zu tun.
Der Kampf alter weißer Männer
Einer Studie zufolge erschienen zwischen 1970 und 2015 315 Computer- und Videospiele mit Westernbezug. Die meisten davon sind Duellspiele und Ego-Shooter wie „Gun Fight“ von 1975 oder „Call of Juarez“ (2006). Um Kund*innen nicht zu verprellen, wurden Themen wie die Vertreibung und Vernichtung großer Teile der indigenen Bevölkerung oder die Sklaverei nahezu komplett ausgeblendet oder verharmlost, sagt Schoppmeier.
Empfohlener externer Inhalt
Während sich Westernfilme von ihren anfänglichen romantischen Verklärungen der US-amerikanischen Frontier emanzipiert haben und den Gründungsmythos der USA zerlegen, stagnieren Westernspiele auf dem Niveau von Filmen der 1960er Jahre.
Erst neuere Westernspiele wie „Red Dead Redemption 2“ behandeln Themen wie Umweltzerstörung oder die Vertreibung der indigenen Bevölkerung. Für ein Blockbuster-Videospiel sei „Red Dead Redemption 2“ teilweise recht progressiv, im Vergleich zu vielen Westernfilmen aber nicht, sagt Schoppmeier, der das Spiel in seiner Promotion erforscht: „Red Dead Redemption 2 positioniert sich nicht klar zu diesen Themen, die zudem nur Nebenmissionen sind. Im Kern bleibt es der Kampf zweier alter weißer Männer vor tollen Kulissen.“
Das Mitte Juni erschienene Echtzeit-Taktikspiel „Desperados 3“ des deutschen Entwicklerstudios Mimimi Games nutzt ebenfalls den „Wilden Westen“ als Szenario und spielt in den 1870er Jahren. „Unser Spiel ist ein Best-of der Westernfilme“, sagt Martin Hamberger, Lead Writer bei Mimimi Games.
„Desperados 3“ sollte als Spiel nicht zu düster werden und Spaß machen, sagt Hamberger. „Deshalb haben wir uns gegen den US-amerikanischen Bürgerkrieg entschieden.“ Trotzdem haben die Entwickler*innen das Thema Sklaverei in Ansätzen aufgegriffen: In einer Mission bewegt man sich in den Sümpfen Louisianas, in der Menschen in Käfigen gehalten werden.
Perspektiven indigener Communitys
„Wir hätten uns unwohl gefühlt, wenn wir das ernste Thema ignoriert hätten“, sagt Hamberger. „Desperados 3“ ist im Vergleich zu anderen Spielen progressiver, die Charaktere und die Story bleiben allerdings stereotyp. Außerdem erleben die Spieler*innen die Geschichte größtenteils aus der Perspektive von weißen Menschen.
Entwickler*innen von Indie-Spielen verlassen indes die meist weiße Perspektive des US-amerikanischen Westens und zeigen etwa im Lernspiel „When Rivers Were Trails“ von 2019 das Leben einer indigenen Community im 19. Jahrhundert, die von ihrem Land vertrieben wurde. Entwickelt wurde es von Elizabeth LaPensée, die selbst indigene Vorfahren hat. Einen General Custer finden Spieler*innen darin glücklicherweise nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“