Wiederholung der Wahl in Berlin: Berliner Verhältnisse
Der Verfassungsgerichtshof spricht sich für erneute Wahlen für Abgeordnetenhaus und Bezirke aus, definitiv ist das aber noch nicht. Was steht nun an?
Berlin steht vor einer Wiederholung der Wahlen, oder?
Am Mittwoch hat der Verfassungsgerichtshof, Berlins höchstes Gericht, erklärt, dass die jüngsten Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den zwölf Bezirksparlamenten seiner Auffassung nach ungültig sind. „Nur die vollständige Wiederholung der Wahlen kann deren Verfassungskonformität wieder herstellen“, sagte Gerichtspräsidentin Ludgera Selting zu Beginn einer Anhörung aufgrund mehrere Wahlanfechtungen. Allerdings handelt es sich bei den Aussagen des Gerichts um eine vorläufige Position, das Urteil steht noch aus.
Also ist alles offen?
Theoretisch ja. Aber nach Einschätzung eigentlich aller Beobachter*innen und Politiker*innen kann das Gericht nicht mehr hinter seine verkündete Position zurück. Die neun Verfassungsrichter*innen haben sich damit zu weit aus dem Fenster gelehnt. Auch Selting erklärte, dass die Beurteilung des Gerichts sich höchstens „an der ein oder anderen Stelle“ noch ändern könne.
Und wann wird nun gewählt?
Das steht noch nicht fest. Das Gericht hat nach der Anhörung drei Monate Zeit, um sein Urteil zu verkünden. Spätestens am 28. Dezember muss es so weit sein; das Urteil kann aber auch schon früher fallen. Nach dem Urteil wiederum muss laut dem Landeswahlgesetz innerhalb von 90 Tagen gewählt werden. Letzter Termin ist also der 28. März 2023.
Kam die Einschätzung des Gerichts überraschend?
Ja. Das Bundesverfassungsgericht hat eine recht enge Auslegung, in welchen Fällen Wahlpannen und -fehler zu Wiederholungen führen können. Danach muss eigentlich eine so genannte Mandatsrelevanz gegeben sein, sprich die Fehler müssen konkrete Auswirkung auf die Sitzverteilung oder die Vergabe der Direktmandate haben. Dies ist nach Ansicht vieler Verfassungsrechtler*innen aber nur in wenigen Berliner Wahlkreisen – die meisten gehen von drei strittigen Direktmandaten aus – gegeben.
„Der Umfang einer Wahlwiederholung muss im Verhältnis zu den Wahlfehlern stehen“, argumentiert etwa der Staats- und Verwaltungsrechtler Christian Pestalozza, Professor an der Freien Universität Berlin. „Man kann nicht flächendeckend neu wählen, wenn die Wahl zu großen Teilen fehlerfrei war.“ Das Berliner Verfassungsgericht argumentierte aber anders.
Wie denn?
Die Vierfachabstimmung am 26. September 2021 fand unter schwierigen Bedingungen statt: gewählt wurden Bundestag, Abgeordnetenhaus und Bezirksparlament, zudem stand der Enteignen-Volksentscheid an, zudem fand der Marathon statt und es gab zahlreiche Corona-Auflagen. In der Folge kam es zu zahlreichen Pannen: Stimmzettel fehlten oder wurden falsch ausgegeben; es gab schlicht zu wenig Wahlurnen, daher kam es zu langen Schlangen und vielfach wurde bis weit nach 18 Uhr gewählt.
Nach Auffassung der neun Verfassungsrichter*innen waren diese Pannen vorhersehbar; verantwortlich für die Fehler seien deswegen Landeswahlleitung und die zuständige Senatsverwaltung für Inneres unter dem damaligen Senator Andreas Geisel (SPD), heute Bausenator. Zudem geht das Gericht davon aus, dass die bekannten Pannen nur „die Spitze des Eisbergs“ seien; es würde wohl nie aufgeklärt, wie viele potenzielle Wähler*innen betroffen und deren Recht auf eine Wahl in Präsenz eingeschränkt wurde.
Für welche Politiker*innen geht der Wahlkampf nun von vorne los?
Für all jene, die im September 2021 für das Berliner Abgeordnetenhaus und die zwölf Bezirksparlamente kandidiert haben. Denn eine neue Aufstellung von Listen und Kandidat*innen wird es – da es sich um eine Wahlwiederholung handelt – nicht geben. Die Verzeichnisse der Wähler*innen werden aber aktualisiert.
Was ist mit dem Volksentscheid?
Der Entscheid, bei dem knapp 60 Prozent für die Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen gestimmt haben, bleibt gültig. Das Ergebnis war zu eindeutig, es gab auch keine Einsprüche dagegen bei Gericht.
Und die Bundestagswahl?
Darüber entscheidet der Bundestag selbst. Im Sommer hatte sich die Ampelkoalition eigentlich darauf geeinigt, auch diese Wahl in 400 der rund 2.300 Wahllokale zu wiederholen. Nach der überraschenden Position des Berliner Verfassungsgerichts wurde die Sitzung des Bundestagswahlausschusses am Donnerstagabend jedoch abgesagt. Es müsse nun geprüft werden, „ob nicht auch hinsichtlich der Bundestagswahl in allen zwölf Berliner Bundestagswahlkreisen die Wahl komplett wiederholt werden muss“, fordert Patrick Schnieder (CDU), Obmann der Union im Wahlprüfungsausschuss des Bundestages. Wahrscheinlich würde eine (teilweise) Wiederholung der Bundestagswahl aber nicht am gleichen Tag stattfinden. Denn viele Beobachter*innen erwarten, dass gegen eine Entscheidung des Bundestags beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe geklagt würde – und das kann dauern.
Apropos Wahlkampf: Wie wird der aussehen?
Das ist die große Frage. Angesichts der vielen sich überlagernden Krisen haben viele Vertreter von Rot-Grün-Rot am Donnerstag an die Verantwortung der Politik appelliert. Ein rasches Umschalten in den Wahlkampfmodus könne man sich nicht leisten. Aber natürlich muss jede/r Politiker*in erneut um das Mandat kämpfen, Profilierung ist da hilfreich. De facto sind wir also seit Mittwoch im Wahlkampf.
Berlin könnte nächstes Jahr eine neue Regierende Bürgermeisterin bekommen?
Ja, auch Franziska Giffey (SPD) muss um ihr Amt fürchten. Nach den jüngsten Umfragen ist ihre Partei nur noch drittstärkste Kraft; es führen die Grünen knapp vor der CDU. Ob es also zu einer erneuten Koalition aus SPD, Grünen und Linken kommt und gegebenenfalls in welcher Konstellation genau, ist offen; ebenso, wann diese nach den üblichen Koalitionsverhandlungen gewählt wird.
Was macht das Abgeordnetenhaus bis dahin?
Weiter wie bisher – jenseits des Wahlkampfgetöses. Die Abgeordneten sind weiter für ihre Arbeit legitimiert. Welche Entscheidungen die Koalition aber noch treffen kann, besonders wenn es sich um umstrittene Themen handelt, ist offen.
Und wie soll verhindert werden, dass es bei einer Wahlwiederholung ein erneutes Chaos gibt?
Wenige Tage nach dem Wahlchaos war die Landeswahlleiterin Petra Michaelis zurückgetreten. Der damalige Innensenator Geisel setzte eine Expertenkommission ein, die Ideen erarbeiten sollte, wie solche Pannen künftig verhindert werden können. Die Kommission hat ihre Vorschläge im Sommer vorgestellt, laut Geisels Nachfolgerin Iris Spranger (SPD) arbeite man daran, diese umzusetzen. Übrigens: Die Fehleranalyse der Kommission deckt sich weitgehend mit der Argumentation des Verfassungsgerichts.
Ein zentrales Mitglied der Kommission, der Berliner Politikwissenschaftler Stephan Bröchler, ist seit 1. Oktober neuer Landeswahlleiter. Er muss nun die Wahlwiederholung vorbereiten. Helfen dürfte ihm, dass es wohl nur zwei Abstimmungen gibt und der Berliner Halbmarathon mit zehntausenden Teilnehmer*innen für den 2. April angesetzt ist – da müssen die Wahlen bereits gelaufen sein.
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