Wiederholung der Wahlen in Berlin: Jetzt aber bitte „reibungsarm“

Stephan Bröchler soll zeigen, dass Berlin auch Wahlen kann. Doch dafür hat der neue Wahlleiter nur vier Monate Zeit – und nicht mal einen Vollzeitjob.

Stephan Bröchler auf einer Pressekonferenz

Hochschullehrer und Landeswahlleiter: Stephan Bröchler am Freitag auf einer Pressekonferenz Foto: dpa

Berlin taz | Stephan Bröchler ziert die vornehme Zurückhaltung des Wissenschaftlers. Der 60-Jährige trägt nicht vor sich her, dass er derzeit eine der wichtigsten Personen in der Berliner Landespolitik ist, vielleicht sogar die wichtigste. Bröchler lehrt Politikwissenschaft an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht; vor allem aber ist er seit 1. Oktober neuer Landeswahlleiter – und als solcher dafür verantwortlich, dass die absehbare Wiederholung der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zu den zwölf Bezirksparlamenten nicht wieder im Debakel endet. „Wir müssen beweisen: Berlin kann Wahlen, jetzt erst recht“, betont Bröchler am Freitag bei seinem ersten öffentlichen Auftritt vor Journalisten als Wahlleiter.

Viel Zeit hat er für diesen Beweis nicht. Am 16. November wird der Berliner Verfassungsgerichtshof sein Urteil verkünden und erklären, ob er die beiden Wahlen wegen zahlreicher Pannen wirklich wie allgemein erwartet für ungültig erklärt. Innerhalb von drei Monaten müsste Bröchler dann einen Wiederholungstermin anberaumen; er selbst gehe vom 12. Februar aus, wie er bei der Pressekonferenz erklärt.

Bröchler hat sich akribisch auf diesen Auftritt vorbereitet. Eine halbe Stunde lang trägt er, sauber strukturiert, seine Pläne vor. Wie er seine Geschäftsstelle zum Landeswahlamt umbauen will; wie viel Papier er bereits bestellt hat für die wohl nötigen Wahlzettel; dass er als Landeswahlleiter mehr mit den Ber­li­ne­r*in­nen kommunizieren, sie für die Wahlen wieder begeistern möchte; dass er ein Schulungskonzept für Wahl­hel­fe­r*in­nen entwickeln will, das in allen Bezirken identisch ist. „Die Wiederherstellung des Vertrauens in die Wahlen ist das Ziel“, erklärt er, „alles andere ordnet sich dem unter“.

Aus seinen Ausführungen spricht der nüchtern-analytische Politikwissenschaftler, der Bröchler weiterhin ist. Etwa, wenn er einen Satz sagt, der kaum einer Berliner Po­li­ti­ke­r*in in diesen Tagen über die Lippen käme: „Zu 100 Prozent funktionierende Wahlen gibt es nicht; bei jeder Wahl kommt es zu Problemen.“ Es geht ihm daher darum, dass die Wiederholung „reibungsarm“ ablaufe.

Bröchler kennt die Probleme der Wahlorganisation in Berlin so gut wie kaum jemand anders.

Drei Tage die Woche lehrt Bröchler weiterhin an seiner Hochschule, Montag und Freitag ist er Landeswahlleiter. Doch auch die Samstage und Sonntag investiere er derzeit dafür, berichtet er, und betont auf die Frage, ob seine Zeit denn reiche, um diese eminent wichtigen Wahlen zu organisieren: „Natürlich ist das ein Spagat.“

Landeswahlleiter ist ein Ehrenamt, und soll es auch bleiben

Allerdings mache er vor allem strategische Vorgaben; für die „operative Umsetzung“ seien die Mit­ar­bei­te­r*in­nen der Geschäftsstelle zuständig. Gehalt erhält er dafür nicht: Der Wahlleiter ist ein Ehrenamt, kein Hauptberuf, und das sollte auch so bleiben, findet Bröchler, um die Unabhängigkeit des Amtes zu betonen.

Ob er da nicht den Aufwand unterschätzt? Der Politologe kennt die Probleme der Wahlorganisation in Berlin zwar so gut wie wenig andere. Er war Mitglied in der vom Senat eingesetzten Kommission, die die Defizite der Wahl 2021 untersucht und im Juli Vorschläge zur Verbesserung vorgestellt hat, um Pannen wie fehlende Wahlurnen und Stimmzettel sowie teils mehrstündige Wartezeiten künftig zu vermeiden.

Der Analyse des 13-köpfigen Gremiums, dass die Vorbereitung der Vierfachabstimmung unter Coronabedingungen mit parallel stattfindendem Marathon unzureichend gewesen sei und dies auch die Schuld des damaligen Innensenators Andreas Geisel (SPD) war, schloss sich das Verfassungsgericht in seiner Anhörung Ende September an. In der juristischen Schlussfolgerung gehen die Richter aber wohl deutlich darüber hinaus.

Doch vier Monate vor der absehbaren Wahlwiederholung sind viele Fragen offen und so mancher in der Landespolitik fragt sich angesichts dessen, ob das Gericht die Tragweite der angekündigten Entscheidung im Blick hatte. Etwa die nach der Legitimität des Senats und des Abgeordnetenhauses: Dürfen beide noch Entscheidungen treffen nach dem 16. November? Ja, sagt Bröchler; allerdings glaubt er nicht, dass danach noch „grundlegende Gesetze“, etwa Verfassungsänderungen, erfolgen können. Das wäre zum Beispiel die vorgesehene Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre.

Gilt die Wiederwahl für volle fünf Jahre oder nur bis zum regulären Ende dieser Legislaturperiode, also 2026? Bröchler geht von letzterem aus, derweil zerbrechen sich noch zahlreiche Ju­ris­t*in­nen darüber den Kopf. Wie viele Wahlurnen bräuchte jedes Wahllokal für einen reibungslosen Ablauf ohne lange Wartezeiten wie 2021? Drei, sagt Bröchler. Und was passiert, wenn das bis Mitte November laufende Klimavolksbegehren die für einen Volksentscheid nötigen 170.000 gültigen Unterschriften sammelt? Dieser würde dann auch am 12. Februar abgestimmt. „Darauf müssen wir uns einstellen.“

Menschen stehen Schlange vor einem Wahllokal

Schon Bilder mit Symbolcharakter: Schlange vor einem Berliner Wahllokal am 26. September 2021 Foto: dpa

Mit all dem verbunden ist die zentrale Frage: Wie groß wird der Aufwand für die Wahlwiederholung sein?

Ein Punkt, der Bröchler an diesem Freitag deutlich Kopfzerbrechen bereitet, ist eine mögliche, bereits vom Verfassungsgericht angedeutete Bedingung für die Wahlwiederholung, wonach es ausreichende Kapazitäten geben müsse, damit alle Ber­li­ne­r*in­nen vor Ort im Wahllokal abstimmen könnten. Sprich: Man könne in der Vorplanung keine Briefwählenden abziehen, die nie in den Wahllokalen auftauchen. 2021 waren das immerhin rund 40 Prozent; bei einer Abstimmung mitten im Winter unter Coronabedingungen könnten es sogar noch mehr werden, glaubt Bröchler.

Wie viele Wahl­hel­fe­r*in­nen werden gebraucht?

Käme diese Vorgabe des Gerichts trotzdem, würde man mit den rund 38.000 Wahl­hel­fe­r*in­nen und den 2.256 Wahllokalen nicht hinkommen. Bröchler befürchtet in diesem Fall einen „Dominoeffekt“: Es bräuchte mehr Helfende, mehr Schulungen für jene und eben mehr Orte, wo abgestimmt werden könne – all das erschwert die Organisation der Wahlen.

Zumal er davon ausgeht, dass ohne die Mit­ar­bei­te­r*in­nen des öffentlichen Dienstes nicht genug Un­ter­stüt­ze­r*in­nen gefunden werden, und diesmal auch die Verwaltungen des Bundes gefragt seien, um Kol­le­g*in­nen in die Wahllokale abzustellen. Jene müssten dafür mehr Freizeitausgleich bekommen als bisher; den anderen Wahl­hel­fe­r*in­nen die Entschädigung von bisher 60 Euro mehr als verdoppelt werden. Schließlich gehe es darum, die „Wertschätzung“ dieser Jobs angemessen auszudrücken.

In gewisser Hinsicht Entwarnung gibt es bei der ebenfalls anstehenden, zumindest teilweisen Wiederholung der Bundestagswahl in Berlin. Denn Bröchler geht nicht davon aus, dass diese am selben Tag, also am 12. Februar 2023, stattfinden würde – weil die Entscheidung darüber bis dahin noch nicht gefallen sein dürfte.

Auch das Bundesverfassungsgericht wird mitmischen

Denn darüber entscheidet der Bundestag selbst, sprich die Ampelkoalition. Eigentlich hatte sich diese auf eine Wiederholung der Wahl in rund 300 der 2.256 Berliner Wahlkreise geeinigt, am Donnerstag sollte der Wahlausschuss des Parlaments die Vorlage beschließen. Doch diese wurde kurzfristig, offenbar wegen neuer juristischer Bedenken, wieder zurückgezogen. Der Berliner Landeswahlleiter geht aber sowieso davon aus, dass jemand – etwa eine Oppositionsfraktion – gegen die Entscheidung des Parlaments vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vorgeht.

Was dann passiere, sei „pure Spekulation“. Das Gericht könne die Klage gar nicht annehmen; Bröchler selbst geht hingegen sogar von einem „Grundsatzurteil“ aus, gerade auch angesichts der absehbaren Entscheidung des Berliner Verfassungsgerichts. Geklärt werden könnte dann zum Beispiel, so Bröchler, welche Wartezeiten vor einem Wahllokal akzeptabel seien und auch, ob Wahlpannen nur dann Folgen haben müssen, wenn sie letztlich auf die Verteilung der Mandate Auswirkungen haben könnten.

Er habe sich übrigens nicht für den Posten des Landeswahlleiters beworben, berichtet Bröchler. Nach Abschluss der Kommission sei er von der Innensenatorin gefragt worden. Nun sieht er seinen Job als die nachvollziehbare und notwendige Verlängerung der Kommissionsarbeit. Und eine gewisse Leidenschaft für die Aufgabe ist ihm an diesem Freitag immer wieder anzumerken, wenn er Erkenntnisse der Politikwissenschaft mit der Praxis der Demokratie in Verbindung bringen kann. Ob das geklappt hat, wird sich erstmals am 12. Februar zeigen.

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