„Werbung“ für Abtreibungen: Notfalls durch alle Instanzen
AbtreibungsgegnerInnen verklagen eine Ärztin. Sie führt Schwangerschaftsabbrüche durch und das steht auf ihrer Webseite.
Es ist ein einziges Wort, das Kristina Hänel in diese missliche Lage gebracht hat: „Schwangerschaftsabbruch“. Dieses Wort steht auf der Webseite der Ärztin, neben Begriffen wie „Familienplanung“ und „Lungenfunktionsuntersuchung“. Und wegen dieses einen Wortes muss die Gießener Ärztin sich am 24. November vor Gericht verantworten. Der Vorwurf: Verdacht des Verstoßes gegen Paragraf 219a des Strafgesetzbuches (StGB), der die „Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft“ verbietet. Angezeigt wurde sie von radikalen AbtreibungsgegnerInnen.
Dieser Text machte den Fall Kristina Hänel und Paragraf 219a StGB öffentlich. Es folgte eine jahrelange politische wie gesellschaftliche Debatte um das Recht auf Information über Schwangerschaftsabbrüche. 2022 wurde Paragraf 219a ersatzlos gestrichen.
Für ihre journalistische Arbeit zu dem Thema wurde taz-Journalistin Dinah Riese mehrfach ausgezeichnet: 2018 mit dem „Marlies-Hesse-Nachwuchspreis“ des Journalistinnenbundes und 2019 mit dem „Langen Atem“ des Journalistenverbands Berlin Brandenburg.
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Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland verboten, aber straffrei. Wer sich in einer anerkannten Beratungsstelle beraten, dann eine dreitägige Bedenkfrist verstreichen und den Abbruch innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen nach Empfängnis vornehmen lässt, wird nicht verfolgt. So regelt es der „Abtreibungsparagraf“ 218. Auch ÄrztInnen, die den Abbruch unter diesen Bedingungen durchführen, handeln nach geltendem Recht. Nicht so, wenn sie das in schriftlicher Form öffentlich mitteilen.
Paragraf 219a besagt unter anderem, dass, wer „öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften“ seines „Vermögensvorteils wegen oder in grob anstößiger Weise“ Abtreibungen „anbietet, ankündigt“ oder „anpreist“, werde mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Eine Steilvorlage für AbtreibungsgegnerInnen.
Am Samstag werden die selbsternannten „Lebensschützer“ sich wieder in Berlin versammeln und das Ende von „Abtreibung und Selektion“ fordern. Im vergangenen Jahr zogen beim sogenannten „Marsch für das Leben“ etwa 6.000 Menschen mit weißen Holzkreuzen durch die Straßen, um ein striktes Abtreibungsverbot zu fordern – getarnt unter dem Deckmantel der Menschenfreundlichkeit und dem Einsatz für die Rechte etwa behinderter Menschen.
Die Demo: Am 16. September fordern die selbsterklärten „LebenschützerInnen“ in Berlin ein striktes Verbot von Abtreibungen. Der vom Bundesverband Lebensrecht organisierte Marsch findet seit 2002 statt. Er wird unter anderem von der katholischen Kirche und evangelikalen Kreisen unterstützt.
Die Gegendemo: Gegenproteste gibt es seit 2008. Unter anderem ruft das queer-feministische Bündnis „What the Fuck“ zu Gegendemo und Blockaden auf. Es kritisiert die Forderung nach einem Abtreibungsverbot ebenso wie das reaktionäre und homophobe Frauen- und Familienbild der „Lebensschützer“. (dir)
„Es ist das dritte Mal, dass die ‚Initiative Nie Wieder‘ mich anzeigt“, sagt Hänel. Die 61-jährige Allgemeinmedizinerin führt seit mehr als 30 Jahren Schwangerschaftsabbrüche durch. Doch es ist das erste Mal, dass sie vor Gericht muss. Eine Statistik über alle Anzeigen und Verfahren in Deutschland gibt es nicht – um ansatzweise einen Überblick zu erlangen, muss man sich auf die Webseiten des „Nie-Wieder“-Vorsitzenden und Abtreibungsgegners Klaus Günter Annen begeben. Auf Domains mit Namen wie „Abtreiber.com“ oder „Babycaust.de“ listet Annen Namen und Anschriften von ÄrztInnen, die Abbrüche durchführen, sowie seine Anzeigen gegen sie auf.
Oft kommt es nicht zur Anklage
Die große Mehrheit der Staatsanwälte entscheidet demnach, keine Anklage zu erheben. Nicht etwa, weil sie der Meinung sind, die ÄrztInnen handelten im Recht. Tatsächlich legen die meisten den Paragrafen 219a so aus, dass schon der sachliche Hinweis, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, als Werbung zum eigenen Vermögensvorteil zu werten sei, weil der Arzt oder die Ärztin ein reguläres Honorar erwarte. Sie beziehen sich dabei auf ein Urteil des Landesgerichts Bayreuth aus dem Jahr 2006. Damals wurde ein Arzt verwarnt. Dass die meisten Verfahren dennoch eingestellt werden, liegt daran, dass die betreffenden ÄrztInnen die Rechtslage nicht kannten und den Eintrag umgehend von ihrer Webseite entfernen.
Kristina Hänel hat das nicht getan. Weiterführende Informationen erhält zwar nur, wer seine Email-Adresse angibt – aber das Wort „Schwangerschaftssabbruch“ steht nach wie vor auf der Seite. Aus diesem Grund entschied sich der zuständige Staatsanwalt, Anklage zu erheben, die betraute Richterin am Amtsgericht Gießen ließ die Anklage zu. Bei der vorangegangenen Anzeige aus dem Jahr 2008 sei noch von einem „unvermeidbaren Verbotsirrtum“ ausgegangen worden, heißt es in der Anklageschrift. Allerdings sei der Angeklagten damals der „Rahmen des rechtlichen Dürfens“ vor Augen geführt worden – nun seien an ihr „Unrechtsbewusstsein“ höhere Ansprüche zu stellen.
Für Kristina Hänel ist die Anklage ein Skandal. „Wenn der Paragraf 219a heutzutage tatsächlich so restriktiv ausgelegt wird, dann muss er weg. Oder geändert werden.“ Mit dem Paragrafen 218 sei geregelt, unter welchen Umständen Frauen abtreiben können. „Wenn der Gesetzgeber sagt, dass das straffrei ist, muss er den Frauen auch die Möglichkeit geben, sich selbst umfassend über Methoden und Ärzte zu informieren“, sagt Hänel. „Es gibt in Deutschland ein Recht auf freie Arztwahl.“
Der Paragraf 219a StGB soll verhindern, dass „der Schwangerschaftsabbruch in der Öffentlichkeit als etwas Normales dargestellt und kommerzialisiert wird“, erklärt die Gießener Staatsanwaltschaft. Für Hänel eine absurde Vorstellung. „Es ist doch niemand für Abtreibungen“, sagt sie. „Weder ich noch die Frauen, die zu mir kommen.“ Es gebe aber nun mal Situationen, in denen eine Frau eine Abtreibung brauche. „Es ist doch meine verdammte Pflicht, diese Frauen medizinisch zu versorgen.“
„Anbieten und werben sind nicht gleichzusetzen“, sagt die Kieler Rechtswissenschaftlerin Monika Frommel, eine Expertin wenn es um die Paragrafen 218 und 219 geht. Sie vertritt Hänel vor Gericht. „Die Auslegung der Staatsanwaltschaft widerspricht der Reform des Abtreibungsrechts. Ärzte handeln rechtmäßig, wenn sie die gesetzlichen Anforderungen einhalten.“ Deswegen müssten sie über den Eingriff auch informieren dürfen.
Unterbundene Infos für Frauen
Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen Paragraf 219a StGB sind sehr selten – aber sie existieren. Da ist der bereits erwähnte Fall aus Bayreuth aus dem Jahr 2006, der mit einer Verwarnung endete. Eine andere Ärztin aus Nordrhein-Westfalen musste zwei Mal vor Gericht. Das erste Verfahren im Jahr 2008 endete mit einer Verwarnung gegen sie und ihre zwei PraxiskollegInnen: Weil auf ihrer Webseite ein PDF mit Hinweisen für den OP-Termin abgerufen werden konnte, musste sie eine Geldbuße von 1.800 Euro zahlen.
Sieben Jahre später waren es schon 6.400 Euro. Dieses Mal bekam ein Abtreibungsgegner bei der Internet-Suche nach „Schwangerschaftsabbruch“ ihre Praxis empfohlen. Das Gericht wertete dies als „Inserat“ und verhängte einen Strafbefehl. Seitdem gilt sie als vorbestraft. Und das, obwohl auf ihrer eigenen Webseite die Leistung nicht aufgeführt war und sie den Betreiber der Gelben Seiten gebeten hatte, den nicht von ihr veranlassten Eintrag zu korrigieren.
Viele ÄrztInnen seien heute abgeschreckt von der Aussicht, mit Anzeigen der LebensschützerInnen überzogen zu werden – und führten die Abbrüche lieber gar nicht erst durch, sagt Christian Albring, Präsident des Berufsverbands der Frauenärzte in Deutschland. Frauen sind durch den Paragrafen 219a zudem von MittlerInnen wie ihren ÄrztInnen oder Beratungsstellen abhängig. Von Pro Familia etwa bekommen Frauen auf Wunsch am Ende einer Beratung eine Auswahl an Adressen, an die sie sich wenden können.
Recherchieren sie selbst im Netz, landen sie aber fast zwangsläufig auf den Seiten der AbtreibungsgegnerInnen. Eine der wenigen verfügbaren Alternativen ist eine Liste mit ÄrztInnen in Deutschland, die der Wiener Gynäkologe Christian Fiala ins Netz gestellt hat. „Ich halte es für unsäglich, dass Frauen diese wichtige Information und die damit verbundene Selbstbestimmung vorenthalten wird“, sagt Fiala.
Auch Kristina Hänel will diese Situation nicht länger hinnehmen. „Es ist ja nicht so, dass durch diese Regelungen irgendwelche Abtreibungen verhindert würden“, sagt sie. Wenn es sein muss, will Hänel sich ihrer Anwältin Monika Frommel durch alle Instanzen klagen. „Ich bin jetzt 61 Jahre alt, meine Kinder sind groß – ich bin nicht mehr so leicht unter Druck zu setzen wie früher“, sagt Hänel. Und: „Ich bin bereit, da jetzt so lange dran zu bleiben, bis das Recht auf Information für diese Frauen da ist.“
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