Weltumsegelung nach dem Ende der DDR: Ein Traum von einem Boot
Vier Freunde aus der DDR haben kurz vor der Wende eine Idee: ein Boot bauen, um die Welt segeln. Heute sind die Männer alt. Und ihr Traum?
Gernot hat einen Traum, und dieser Traum ist 20 Meter lang, aufgebockt in einer Multifunktionshalle an der polnischen Küste. Drumherum: Schilf, ein Fischrestaurant, ein Schäferhund, in Ketten gelegt, der Diebe abhalten soll, was nicht so recht klappt. Schon wieder ist eine Eisenkiste abhandengekommen.
Er geht vorbei an den Pappeln über den Löwenzahn, der sich durch die Lücken des Asphaltwegs drückt, zu der Bauhalle, in der die Luft steht an einem heißen Tag im Juni letzten Jahres. Gernot bleibt vor dem einschüchternden Rumpf stehen, der grün lackiert ist, bedeckt von einer Bauplane, die wie ein Schleier über ihm ruht. Eine Braut kurz vor dem Kuss. Er möchte mit ihr segeln, einmal um die Welt herum. Nach Australien, ins Mittelmeer, dorthin, wo nachts die Delfine im Mondlicht springen. Vielleicht auch durch Eis, wer weiß schon, wo die Reise hinführt, deshalb ist der Rumpf am Bug verstärkt. Wenn die Avalon eines Tages in See sticht, soll alles möglich sein. Wenn.
Das Deck aus Teak ist noch nicht fertig verlegt. Der Mast fehlt. Sieben Tonnen Blei im Kiel, auf den bei der letzten Feier jemand außen die Preise für Getränke geschrieben hat. Gernot, ein langer Mann mit grauen Locken und riesigen Händen. Neben ihm steht Torsten, sein Kumpel, auch lang, früher mal blond, abgewetzte Lederjacke. „Wusstest du“, sagt Gernot zu ihm, „dass sich ein Paar hier zum ersten Mal liebte, unter Deck, auf unserer Feier?“
Cuba Libre 3 Euro. Kaffee 1,50. Euro. Das ist wichtig für diese Geschichte. Denn als alles begann, war das Geld noch aus Aluminium und nicht die Hauptsache. Damals hieß das Land, in dem Gernot und Torsten lebten, noch Deutsche Demokratische Republik, und eine Reise im eigenen Schiff über die Weltmeere war unmöglich.
Die DDR ist längst vergangen. Viele im Osten können sie herunterbeten, die Statistiken über Arbeitslosigkeit, kennen Biografien, die sich plötzlich nicht mehr um die Frage drehten: Wer war ich? Sondern: War ich echt? Im Rhythmus der Werke, die vom Westen aufgekauft und geschlossen wurden, hat man die DDR abgewrackt und mit ihr die Träume, die immerhin ganze Leben lang existiert hatten.
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Doch es gibt sie auch, die andere Wende. Die, die Träume geweckt hat. Wie den von Gernot und Torsten und ihren beiden Freunden Werner und Bernd, ein Boot zu bauen und damit um die Welt zu segeln. Was ist daraus geworden?
Gernot & Bernd
Vor mehr als sechs Jahrhunderten schichteten die Einwohner von Bobbin Feldsteine aufeinander, bis schließlich eine Kirche stand. Auf der Insel Rügen steht sie, ist mit roten Ziegeln gedeckt, die Ostsee ist von hier aus zu sehen. Vor fast 30 Jahren, 1988, tauschte Gernot dort die Bodenplatten aus, über die Jahrhundert um Jahrhundert gelaufen worden war.
Gernot ist damals 32 und Restaurator, Angestellter des Volkes gewissermaßen, im Volkseigenen Betrieb Denkmalpflege in Berlin. Der Pfarrer, der sich für Wehrdienstverweigerer der NVA engagiert, hat ihn um Hilfe gebeten, darum, die Kirche zu retten, das macht Gernot dann viele Jahre lang. Einfach so.
Gernot, der Stratege
Bernd macht mit, natürlich. Die beiden haben sich im Betrieb kennengelernt. Gernot ist der, der mit seinen Ideen übertreibt. Bernd reißt mit wie kein anderer. Fortan erleben sie ihre Abenteuer gemeinsam. Sie wohnen in Ostberlin, sind Teil der DDR-Boheme, sie haben ein gutes Leben, schon vor dem Mauerfall.
Wie alle wollen sie zu den Feten ins Berliner Haus der jungen Talente. Bernd und Gernot haben Papier, Zugang zu einem Drucker, also machen sie die Eintrittskarten selbst.
Ohnehin: Machen. Selbst machen.
Jedes Jahr veranstalten sie ein Fest in Brandenburg, alle aus dem Atelier helfen mit, legen zusammen. So wie beim Fest im Jahr vor der Wende, von dem noch heute alle reden, im Zirkuszelt. Um sich das zu mieten, erzählen sie den Artisten von ihren Plänen. Von den Punkbands, die kommen wollen, den Leuten aus Berlin. Sie fragen den Bürgermeister, ob sie ein Fest feiern dürfen, womöglich könnten sie ein Zelt dafür mitbringen, um ein paar Bratwürste zu grillen oder so. Am Tag der Feier kommt der Zirkus – mit Wagen und Mannschaft. Es ist so voll, 700 Feiernde aus Berlin und ein Zirkus, dass die Leute von der Stasi sich fragen, wie ihnen das alles entgangen sein konnte.
„Das Leben hat Spaß gemacht damals“, sagt Gernot.
Als die Wende naht und sie da so stehen, vor der Kirche in Bobbin, und die wenigen Segelboote beobachten, die auf der Ostsee kreuzen dürfen, fragen sie einander, wie es wohl wäre: um die Welt zu segeln.
Die Wende
Gernot besitzt einen Reisepass, Bernd die Genehmigung, eine Studienreise durch Europa zu machen. Drei Wochen lang, im Wartburg Tourist von Hamburg nach München, Österreich, Paris, an den Atlantik. 1989 ist das, kurz vor der Wende.
In München treffen sie Restauratoren aus dem Westen, sie freunden sich an: die Ossis, die es gewohnt sind, bei anderen mit anzupacken und auch aus einem Umzug noch ein Fest zu machen – und die Wessis, von denen jeder sein Getränk in der Kneipe selbst bezahlt. Daran erinnert sich Gernot. Bernd an die Geldscheine, die manchmal unter dem Scheibenwischer ihres Wartburgs steckten. Als sie einen alten, erfahrenen Restaurator besuchen, um ihn über sein Handwerk auszufragen, ist dieser verwundert. So viele Jahre in meinem Beruf, antwortet er, und noch nie haben mich Jüngere um Rat gefragt. Später, als die DDR nicht mehr ist, muss Gernot öfter an ihn denken.
Als die beiden nach Hause fahren, haben sie einen Auftrag in der Tasche, für Arbeiten in München, über 400.000 Westmark, und das in einem Jahr, in dem die DDR schon pleite ist. Man erlaubt ihnen, den Auftrag anzunehmen.
Dann fällt die Mauer, und es wird egal, was die Regierung erlaubt. Gernot und Bernd steigen am 11. November, zwei Tage nach dem Mauerfall, in den Zug nach München, um dort zu arbeiten.
Es folgen Jahre, die Gernot heute die goldenen nennt.
Jahre, in denen die aus dem Westen kommen, mit viel Geld, und den grauen Osten bunt anmalen lassen. Bernd und Gernot bleiben zusammen, sie gründen ein Kollektiv, kaufen ein Atelier, Eigentum, Freiheit. Sie restaurieren ein Kloster in Rostock, das Luisium in Dessau, das heute Weltkulturerbe ist, das Schloss Meseberg, in dem die Bundeskanzlerin ihre Regierung und Staatsgäste empfängt. Es ist, als wäre für jedes bedeutende ostdeutsche Bauwerk ihr Können gefragt. Sie fühlen sich als Künstler geachtet, nicht als Handwerker gemietet wie in späteren Jahren. Bernd gründet eine Wohngenossenschaft in Berlin-Prenzlauer Berg, um die Altbauten dort zu retten, beide zusammen einen Biohof auf Rügen. Sie chartern Schiffe und lernen auf dem Weg nach Norwegen, vor Sizilien und Afrika segeln. Und immer wieder feiern sie große Feste. Die Idee, ein Boot für die Weltumrundung zu bauen, erscheint ihnen nicht größenwahnsinnig. Nicht einmal gewagt. Sie ist in diesen Jahren einfach nur folgerichtig.
Avalon I
Heute weiß niemand mehr, ob es Gernot war, der gleich wieder übertrieb und vorschlug, ein Boot zu bauen, oder ob Bernd alle mitriss. Jedenfalls beschlossen sie 1994, das zu können, das Bauen, nicht das Segeln, und steckten andere an.
Schön soll das Boot sein, nicht so ein moderner Joghurtbecher aus Plastik. Ein Gaffelschoner, zwei Masten, fünf Kajüten und genug Platz für die Freunde und die Freundinnen und Abende an Deck, mit Essen und Wein und Geschichten. So etwas zu kaufen würde heute Millionen kosten, damals kostete es etwas weniger und trotzdem viel. Anfangs reist Bernd bis nach England, sucht dort nach alten Booten, aber die, die man ihm anbietet, sind in einem schlechten Zustand. Oder zu teuer. Lieber doch selber bauen.
Da sind also Bernd und Gernot, die Restauratoren und besten Freunde.
Werner, Gernots Bruder, ein bekannter DDR-Fotograf, steigt ein.
Torsten, ein Steinmetz, kommt Jahre später dazu.
So etwas wie einen Businessplan haben sie damals nicht, aber die Idee, nur für das Nötigste Fachleute zu bezahlen. Die Crew findet einen Bootsarchitekten in Bremen, der ihnen die Avalon entwirft. In Polen lernen sie einen Bootsbauer kennen, der das nötige Handwerk beherrscht. Weil er aber keinen Platz hat, um so ein großes Schiff zu bauen, pachten die Männer ein Grundstück im Küstenort Stepnica, auf dem der Bootsbauer sich eine kleine Werft errichten kann. Sie überreden einen Bekannten in Brandenburg, ihnen eine Produktionshalle zu borgen, 600 Quadratmeter groß, die sie abbauen, nach Polen schaffen, dort wieder aufbauen. Finden sie bei einem ihrer Aufträge altes Blei, schaffen sie es Stück für Stück nach Polen, verwenden es für den Kiel. Ganze Sommer verbringen die Freunde dort, sie bekommen Säuglinge, die zu Kindern heranwachsen, und weil sie immer länger in Polen bleiben, bauen sie ein Haus auf dem Grundstück, in dem alle Helfer übernachten können.
Die Männer brauchen Kapital und erfinden eine Avalon-Aktie, einen Kunstdruck für 5.000 Mark, wer einen kauft, darf später mitsegeln. Wieder schaffen sie es, andere zu gewinnen, Freunde, eine Ärztin, Torsten, der noch nicht festes Mitglied der Crew ist, sechs Personen machen mit.
Torsten, der Seemann
Sie finden einen Mann bei Krupp, der sich für Segler begeistert und Geschichten von Ostdeutschen, sie rufen ihn an, erzählen von ihrer Sehnsucht nach dem Meer, von den Freunden aus der ehemaligen DDR, die davon träumen, endlich zu reisen, dass sie dafür aber Stahl bräuchten für den Rumpf. Ob sich da nicht etwas machen ließe?
Wochen später fahren Lkws vor der Traglufthalle in Stepnica vor, 13 Tonnen Stahl, einfach so, geschenkt.
So funktioniert das hier also, denkt Gernot, du musst nur jemanden kennen. Das ist jetzt noch wichtiger als in der DDR.
Ein Brief, datiert auf den 17. 11. 1995. Adressiert an Eberhard Diepgen, damals Regierender Bürgermeister von Berlin. Darin schreibt die Crew: „Wir meinen, daß es der deutschen Hauptstadt an attraktiver maritimer Repräsentation auf den Weltmeeren fehlt.“ Nicht weniger vollmundig legen sie dar, was ihnen vorschwebt: nach Australien zu segeln, pünktlich zu den Olympischen Sommerspielen 2000. „Wir denken, daß unser Schiff, von Berlinern gebaut und eigens dafür im Jahre 1999 zu Wasser gelassen, der geeignete Bote wäre, den Sportlern und Menschen aus aller Welt die Grüße der Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands zu überbringen. Unsere Frage an Sie, Herr Bürgermeister, hat die Stadt Berlin Interesse, uns bei dieser Unternehmung zu unterstützen?“
Diepgen schreibt zurück, dass sie eine Berlinflagge fürs Schiff haben könnten.
Avalon II
28 Jahre nach der Wende steht Gernot in der Werkshalle im polnischen Stepnica, schiebt die Bauplane von der Avalon, die nicht mehr ist als ein Gerippe im Stahlkleid. „Wir sind alle mutige Leute“, sagt Gernot, „am Mut sind wir nicht gescheitert.“ Aber gescheitert?
Die Wahrheit ist: Er steht an diesem heißen Sommertag im Juni 2017 vor seiner Avalon, neben ihm Torsten und ein Mann, den sie heute zum ersten Mal treffen, weil er sie retten soll. Dieser Mann ist eine Art Investmentberater. Der hofft, dass ihm die beiden Deutschen ein gutes Geschäft mit dem Grundstück vorschlagen, ein Altenheim darauf zu bauen vielleicht oder Windkraftanlagen. „Sind Sie Anwälte? Ärzte?“, fragt er. „Haben Sie eine Visitenkarte?“
„Nicht dabei“, murmelt Torsten.
Gernot und Torsten glauben wiederum, dass dieser Mann eine Idee hat, wie sie mit dem Grundstück Geld verdienen könnten, denn Geld ist es, was ihnen für die Avalon fehlt. Als der Investor erfährt, dass sie ein Boot bauen, ist er nicht mehr nur Investor und Notar, sondern auch Schiffsbauer. „Kein Problem“, sagt er, sie klettern in den Bauch der Avalon. Spanplatten dienen als Platzhalter für die Wände der fünf Kabinen und drei Bäder, in der Mitte thront der Motor, auf den sich eine Staubschicht gelegt hat.
„Das ist der Salon“, sagt Gernot.
„Messe“, korrigiert ihn der Investor.
Gernot befühlt eine Schweißnaht am Rumpf.
„Hier ist die Höhe nicht genug“, sagt der Investor und misst mit der Hand den Abstand zwischen seinem Kopf und der Decke.
„Hier ist alles mit viel Liebe gemacht“, sagt Torsten. Aber auch: „Gernot, da dringt Wasser ein.“
Unter dem Kiel kein Meer, aber trotzdem eine Pfütze an Deck.
„Ja“, sagt Gernot.
Die Feste, die Nächte, in denen sie an Deck tanzten, weil sie bald lossegeln könnten, liegen lange zurück, wie viele Jahre schon, mag keiner der vier so recht zugeben. Lang genug jedenfalls, dass aus einem wilden Traum einer wurde, von dem sich die Männer inzwischen fragen müssen: Geben wir ihn auf?
Zwei Segler, die auch Teil der Crew waren, wollten lieber gleich segeln als in ein paar Jahren, sie stiegen aus. Ein anderer geriet beruflich in Schwierigkeiten und gab auf. Der polnische Bootsbauer machte sich aus dem Staub, vielleicht für ein besseres Geschäft, er erklärte es nicht.
Bis die Männer eine Firma in Swinemünde fanden, die weiterbauen wollte, verging fast ein Jahr. Die Ärztin, die eine der Avalon-Aktien gekauft hatte, fragte vorsichtig, wann sie denn nun mit dem Boot reisen könnten, und später dann nach ihrem Geld. Die Crew kaufte mehrere Anteile zurück.
„Wenn du so ein Projekt machst, dann bist du damit verheiratet“, sagt Bernd.
„Dass so etwas nur für Millionäre ist, hat damals niemand eingesehen“, sagt Torsten.
„Wir hatten den Anspruch, alles sollte vom Feinsten sein. Den hätten wir immer noch“, sagt Werner, als er in seiner Küche sitzt.
Werner
Es ist inzwischen Winter in einem Vorort von Berlin, das Küchenradio spricht von der AfD, die hat sich in vielen Köpfen ehemaliger DDR-Bürger eingenistet, vor dem Fenster beginnt der Wald.
Wenn Werner erzählt, geht es oft um Genuss. Den Genuss, Stunden während eines ihrer Segelurlaube damit zu verbringen, Tomaten zu häuten, bevor er sie kocht. Wein zu trinken. Wie er es genoss, die Delfine zu beobachten, die ihn in einer mondhellen Nacht durchs Mittelmeer begleiteten und silberne Streifen hinter sich herzogen. „Die Welt ist so schön“, sagt Werner. Er genoss es, sich vorzustellen, wie er seinen 50. Geburtstag auf der Avalon feiern würde. Jetzt ist er 68.
Damals, am 9. November, steht er am Brandenburger Tor, als einer der ersten Männer hindurchläuft und die Arme ausbreitet. Als wären sie Flügel. Werner gelingt in diesem Moment ein ikonisches Motiv, seine Karriere beginnt danach zu fliegen.
Mit anderen Fotografen aus der früheren DDR gründet er Ostkreuz, eine Agentur. Die Magazine aus dem Westen überhäufen sie mit Aufträgen, sie wollen Ostdeutschland aus der Perspektive der Ostdeutschen sehen. Werner gründet eine Fotoschule. Arbeitet mit seiner Frau Ute an Serien, sie veröffentlichen Bildbände, stellen aus, werden berühmt.
Werner ist der Ältere, aber kleiner als sein Bruder Gernot, die Schultern schmaler, die Hände zarter. Er trägt die Haare weiß und eine Brille mit schwarzem Rahmen, seine Frau Ute auch. Das Boot, sagt er, war immer sein persönlichstes Projekt.
„Ich fände es unendlich schade, wenn es einschlafen würde, das wäre eine Niederlage“, sagt Ute.
„Das Schiff zu verkaufen auch“, antwortet Werner. „Und wir haben ja noch unsere Kinder.“
„Aber die sind vernünftiger“, sagt Ute. „Ach Wernchen.“ Sie streicht ihm über das Gesicht.
Als es richtig losgeht mit dem Boot, Ende der 1990er Jahre, sind die Kinder dabei. Paul und Franz und Luis, Söhne und Neffen, sie schuften unter dem Dach der stickigen Halle, lernen, wie es sich anfühlt, etwas mit den eigenen Händen zu schaffen. Die Erwachsenen nennen sie die Jugendbrigade.
„Wir waren damals nicht reich, konnten uns so etwas wie das Boot aber leisten“, sagt Werner. „Komischerweise hatten wir auch die Zeit.“
Doch die änderte sich. Die ehemalige DDR ist nach ein paar Jahren durchrestauriert und trotzdem nicht aufgeblüht. Anfang der 2000er Jahre werden die Aufträge für Restauratoren weniger, die Honorare für Fotografen kleiner, die Zeit wird knapper und die Männer älter, bald vielleicht zu alt. Es ist das erste Mal, dass sie ihren Traum aufgeben wollen. Sie fragen die Jugendbrigade, ob sie ihr das Boot schenken dürfen. Die Söhne sind inzwischen erwachsen, manche auch Restauratoren, haben das nötige Handwerkszeug. Sie lehnen dankend ab.
Keine Zeit, sagen die Jungen, und: Wir könnten doch so einen Traum gar nicht bezahlen. – Wo ist nur eure Euphorie?, fragen die Alten.
Bernd
Bernd sagt: „Wenn man realistisch ist – das Schiff ist gestorben.“ Es ist Januar, Bernd ist auf dem Weg nach Werben, der Stadt, in der er seit 1984 lebt, erst sporadisch, dann fest. Reif glitzert auf den kahlen Feldern, unten an der Elbe steuert Bernd auf die winzige Fähre zu, auf die nur zwei, vielleicht drei Autos passen, deren Kapitän trotzdem jeden Tag akkurat Uniform trägt. Er setzt ihn über, Bernd startet seinen Motor, fährt in die Kleinstadt mit den schiefen Häusern, deren Rettung er zu seinem Lebenswerk gemacht hat, seinem neuen. Er könnte dem wilden Leben von damals, seinen Freunden und dem Boot ferner nicht sein.
Wenn Bernd von diesem Damals erzählt, klingt das so: Gernot und er haben miteinander leben gelernt. Ski fahren, segeln, Kapitalismus, die Kunst, das Alte zu verehren und deshalb bewahren zu wollen. In seiner Küche hängt ein Foto, schwarz-weiß, das Porträt eines alten Mannes. Wer das ist? „Noch so eine Geschichte“, sagt Bernd und beginnt, von Kuba zu erzählen. Wie Gernot und er sich in die Altstadt von Havanna verliebten, man könnte sie doch retten, die alten Häuser, dachten sie. Also zogen sie los, suchten Verbündete, hatten beinahe einen Termin bei Fidel Castro, behaupten sie heute, und am Ende immerhin die Erlaubnis zu bauen. Das passte gut zum Boot, schließlich könnte man damit Baumaterial aus Florida dorthin verschiffen. Der Mann auf dem Foto erinnert ihn jeden Tag daran, es ist der Alte aus Hemingways Novelle.
Über die Freundschaft von früher sagt Gernot: „Wir waren mehr als verheiratet.“
„Das hab ich nie wieder erlebt“, sagt Bernd. „Leute, die Gemeinschaft suchen. Die anderen Vorteile verschaffen.“
Später dann: „Doch, hier in Werben habe ich das wieder.“
Nach der Euphorie der ersten Jahre zieht sich Bernd immer mehr aufs Land zurück. Während Werner seine Fotoschule gründet, Gernot ihm später ein Haus für sie baut, Torsten um Aufträge wirbt, sie alle sich – kurz gesagt – in der neuen Normalität zurechtfinden, verschanzt sich Bernd in Projekten in Dessau, kommt immer seltener ins Atelier nach Berlin, wirbt bei Staatssekretären in Sachsen-Anhalt um Fördermittel für die einfallenden Häuser in Werben. Er überredet Durchreisende zu bleiben und eines der Häuser wiederaufzubauen. Es gibt Zeiten, in denen Bernd seinen Anteil an den laufenden Kosten des Bootes nicht zahlen kann. „Wenn Bernd diese Lücke wenigstens mit Tatendrang füllen würde“, sagt Gernot.
Wie viel das Boot bis heute gekostet hat, mag niemand hochrechnen. Wie viel es noch kosten würde? 400.000 Euro vielleicht. Wahrscheinlich mehr.
Ihre Frauen fragen von Jahr zu Jahr weniger vorsichtig, ob es nicht an der Zeit wäre, sich vom Boot zu trennen.
Ich steige aus, sagt Bernd im vergangenen Jahr zum ersten Mal. Er möchte seinen Anteil ausgezahlt bekommen. Aber was soll das sein, fragen sich die anderen, Bernds Anteil? Die unzähligen Arbeitsstunden in der heißen Arbeitshalle? Der Haufen Metall? Ein paar Quadratmeter vom Grundstück in Polen? Und: Darf er das, aus dem gemeinsamen Traum aussteigen?
„Ich fände es schön, die Avalon mal zu segeln“, sagt Bernd an diesem Tag im Januar in Werben. „Wir wüssten ja sonst nie, wie das Schiff segelt.“
„Wir brauchen einen Kapitän“, sagt Gernot, „Bernd ist unser Kapitän.“
Torsten
Der Januar ist fast vorüber, als die vier Männer sich in die eine Ecke von Torstens Werkstatt in Berlin-Weißensee drücken, die ein Holzofen wärmt. Der Tisch wackelt, Gernot verteilt Schokoriegel.
Torsten wurde erst ein paar Jahre nach den anderen festes Mitglied der Avalon-Crew. „Mir war schon damals klar, das mit dem Boot wird lange dauern“, sagt Torsten. „Aber ans Scheitern habe ich nie gedacht.“ Da war ja Bernd, den er aus der Arbeit im VEB kannte, der jedem verkaufen konnte, dass es morgen, ja, morgen schon losginge. Gernot, der kühle Rechner, der Stratege. Werner, der die Pole zusammenhielt. Und er selbst? „Ich gucke, wo ich Kaffee für uns alle herkriege.“
Torstens Rolle ist die des Seemanns. Gleich nach der Wende haut er ab, nach Lissabon, heuert auf einem Schiff an, Azoren, Island. Einmal, als der Atlantik tobt und der Kapitän ihm zuruft, wer über Bord gehe, könne nicht mehr gerettet werden, sieht Torsten Dunkelheit, die man so nur auf See erlebt. Er spürt den Sog des Meeres und wie schwer es für seinen Körper ist, ihm zu widerstehen. Im Kopf der Gedanke, wie einfach es jetzt wäre nachzugeben, sich dem Meer hinzugeben, sich einfach fallen zu lassen, und alles wäre vorbei.
Als der Sturm wieder abflaut, ist er mit dem Leben versöhnt und Seemann. Schließlich hat er schon ganz anderes überlebt, die DDR beispielsweise. Torsten ist der Einzige in der Gruppe, der dort nie seinen Platz gefunden hat. Er war aus der FDJ ausgetreten, musste sich verstecken, weil er den Wehrdienst verweigert hat. Seine Freundin zieht mit dem gemeinsamen Sohn in den Westen, und er kann nicht hinterher. Mit dem Mauerfall beginnt sein Leben – mit Techno, neuen Freunden aus Westberlin und Brokkoli, den er bis dahin nicht gekannt hat. Er ist verknallt in die BRD.
Die vier sitzen an diesem Januartag in seiner Werkstatt, um sich zu beratschlagen. Der polnische Investor hat sich nie wieder gemeldet, seit dem Sommer ist nichts mehr auf ihrem Grundstück passiert. Die Frau, die dort hin und wieder nach dem Rechten sehen sollte, ist längst dauerhaft ins Haus eingezogen. Vielleicht besser so, denken die Männer, dann kommen keine Diebe. Nur kostet es sie. Vielleicht würden ja auch Touristen kommen, wenn man es dort schön machte?
Gernot trägt das Angebot eines Installateurs vor, der eine Heizung einbauen könnte. Schon wieder Zusatzkosten. „Wir haben immer gesagt, wir wollen ein Boot bauen“, sagt er, „mehr nicht.“ Sie entscheiden trotzdem, dass die Heizung installiert wird, für die Touristen, man könnte ja, man könnte ja. Weißt du noch damals, was wir alles konnten?
Gernot hat sogar mal mit einem Segelklub in Sankt Petersburg, das er Leningrad nennt, verhandelt und ihm die Baupläne der Avalon geschickt. Statt einer Antwort kam das Paket mehr als ein Jahr später ungeöffnet zurück.
Werner erzählt, wie sie bei einem Abendessen vier Freunden vom Boot berichteten und die zusammenlegten, ihm 4.000 Euro gaben.
Bernd sagt, sein Sohn könnte ihnen ja eine Website bauen, über die sich Geld sammeln ließe. Crowdfunding, das Wort kommt ihnen nur schwer über die Lippen. Dabei machen sie nichts anderes, seit 30 Jahren.
Und was, fragen sie sich, wenn wir das Grundstück in Polen verkauften? Oder das Boot, so wie es ist?
Wie viel kostet ein Traum?
Da sitzen vier ergrauende Männer und erzählen sich Geschichten, um nicht über die Zukunft reden zu müssen. Bernd sagt später: „Das Leben ist nicht mehr lang. Es gibt nicht mehr viel, was ich machen kann.“
Avalon III
Im Hochsommer dieses Jahres dann die Wendung: Es gibt ein Unternehmen, das das Grundstück in Polen kaufen will. Der Vertrag sei fast unterschriftsreif, heißt es. Die kleine Werft würde dann geschlossen und zu Geld. Startkapital, nicht genug, um das Boot fertig zu bauen, aber ausreichend, um weiterzuträumen. Dieses Mal wollen sie eine Werft beauftragen, die Avalon weiterzubauen. Selbst können die Männer das nicht mehr. Die Knie, die Rücken, die Geduld. Einen weiteren Investor brauchen sie trotzdem noch.
„In einem Jahr könnte das Schiff fertig sein“, sagt Gernot, 30 Jahre nachdem Bernd und er in Bobbin standen und vom Reisen auf dem Meer träumten. Werner spricht davon, seinen 70. Geburtstag an Bord zu feiern. Torsten sagt: „Es ist so im Westen: Etwas ist erst dann verkauft, wenn das Geld in deiner Tasche ist.“
Bernd wird nicht mehr dabei sein. Er steigt aus, teilt er den anderen bei einem Treffen im Sommer mit, auf seine Anteile will er verzichten, das werde er bald schriftlich machen, damit alles seine Ordnung habe. Der Brief kommt nicht.
Gernots erstes Bild aus seiner Kindheit ist das vom Vater, wie der sich über Holz beugt, Mahagoni, schleift und klebt. Er baut ein Boot. An die erste Fahrt kann Gernot sich nicht erinnern.
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