Welle rechter Gewalt: Neonazis im Aufwind
Am Wochenende gab es in Berlin und Brandenburg mehrere rechtsradikale Vorfälle. Die Beratungsstelle Opferperspektive warnt vor einer neuen, jungen Neonazi-Szene.

Eine Anwohnerin berichtet der taz, eine Gruppe von sechs oder sieben Personen sei gegen 0.45 Uhr in der Nacht zu Samstag durch die Stahnsdorfer Straße in der Nähe der Unterkunft gelaufen und habe lautstark rechte Parolen skandiert, unter anderem „Heil Hitler“. Wenig später attackierte mutmaßlich dieselbe Gruppe das Geflüchtetenheim. Die Angreifer hätten zunächst versucht, durch eine gesicherte Brandschutztür am Hintereingang ins Gebäude zu gelangen, erzählen Zeug*innen. Als ihnen dies nicht gelang, hätten sie das Fenster eines Badezimmers mit einer Flasche eingeworfen.
Die hinzugerufene Polizei war mit einem Großaufgebot vor Ort. Es seien Spürhunde und auch ein Helikopter eingesetzt worden, sagt die Anwohnerin. Kurz darauf wurden in der Nähe der Unterkunft drei Tatverdächtige festgenommen. Sie seien bislang nicht im Bereich Rechtsextremismus polizeilich in Erscheinung getreten, heißt es. Weitere Auskünfte wollte die Staatsanwaltschaft mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen nicht erteilen.
Der Bürgermeister der Gemeinde, Bernd Albers, verurteilte den gewalttätigen Übergriff als „niederträchtig und feige“. „Es ist erschütternd. Wir sind eine sehr weltoffene Gemeinde“, sagte Albers der taz. Bislang habe es in Stahnsdorf keine rechten Umtriebe gegeben, „das überrascht uns“. Mit Blick auf weitere rechtsextreme Vorfälle in der Region vermutet er „ein überregional koordiniertes Vorgehen“: „Die zeitliche Abfolge ist auffällig“, so der Bürgermeister von der Wählergruppe Bürger für Bürger.
Rechtsstaat muss klare Grenzen zeigen
In Dahlwitz-Hoppegarten und in Ahrensfelde ermittelt der polizeiliche Staatsschutz nach Hakenkreuz-Schmierereien ebenfalls am vergangenen Wochenende. Auch in Fredersdorf-Vogelsdorf führt der Staatsschutz die Ermittlungen, nachdem eine Gruppe zu dem Lied „L’amour toujours“ volksverhetzende Parolen gerufen haben soll.
In den vergangenen Wochen gab es im südbrandenburgischen Senftenberg zudem einen Angriff auf den alternativen Jugendclub Jamm sowie die Vorbereitung eines Sprengstoffanschlags auf eine Geflüchtetenunterkunft. „Solche und andere Einschüchterungsversuche durch rechte Gruppierungen gehören strengstens verfolgt“, so Stahnsdorfs Bürgermeister Albers am Dienstag.
Hannes Püschel von der Brandenburger Beratungsstelle Opferperspektive hält ein koordiniertes Vorgehen hingegen für unwahrscheinlich. „Es entsteht derzeit eine neue und sehr junge Neonazi-Szene, die sich radikalisiert und gewalttätig wird“, so Püschel zur taz. „Das sehen wir an vielen Orten.“ Die Gegend um Stahnsdorf sei da keine Ausnahme.
Diese Entwicklung werde durch den gesellschaftlichen Rechtsruck noch bestärkt. Die Geflüchteten in der Unterkunft seien daher sehr verängstigt und befürchteten weitere Angriffe. Wichtig sei, dass der Rechtsstaat nun klare Grenzen setzt. „Jetzt ist der Moment zu zeigen, dass bestimmte Linien nicht überschritten werden dürfen“, so Püschel. Auch in den Schulen müsse klare Gegnerschaft zu rechtsradikalen Positionen gezeigt werden. Die örtliche Antifa ruft für Freitag zu einer Demo gegen die rechten Angriffe in Stahnsdorf auf.
Hetzjagd von Neonazis auf Jugendlichen
Auch in Berlin kam es zu einem rechtsextremen Vorfall: So soll in Hohenschönhausen im Bezirk Lichtenberg eine Gruppe von rund 15 Neonazis einen 16-jährigen Schüler gejagt haben. „Ich habe mich am Freitagabend mit zwei Freunden getroffen. An einer Straßenecke in der Nähe meiner Wohnung standen drei Vermummte, die uns beobachtet haben. Als wir uns näherten, sind aus der Straße zehn Leute auf uns zugestürmt“, erzählt Leon W., der nicht mit seinem vollen Namen in der Zeitung stehen will, der taz.
Er und seine Freunde seien daraufhin mit ihren Fahrrädern weggefahren und hätten sich auf dem Gelände einer nahegelegenen Grundschule versteckt. Drei der Männer hätten sie mit E-Scootern verfolgt und gesucht. „Ich habe den Notruf der Polizei gewählt und musste vier Minuten lang erklären, dass mein Freund im Gebüsch liegt und in Gefahr ist. Und dann haben sie einen einzigen Streifenwagen geschickt – für 10 bis 15 Faschos“, so der Elftklässler. „Die zwei Polizisten haben nichts gemacht, nicht mal von allen die Personalien aufgenommen.“ Die Polizei äußerte sich auf taz-Anfrage nicht zu dem Vorfall.
Es ist nicht das erste Mal, dass der 16-Jährige bedroht wird. Auf Fotos, die der taz vorliegen, ist ein Flyer mit einem Bild von ihm, seinem Namen und der Aufschrift „kennen sie diesen links radikalen“ und weiter: „Abstand halten“ zu sehen. Auf einem weiteren Foto sieht man einen Container, auf den sein Name und die Drohung „verrecke“ gesprüht wurde. Der Jugendliche vermutet dahinter Rechtsextreme aus dem Umfeld seiner Schule, da die Bedrohungen begonnen hätten, seit er sich im Vorfeld der Bundestagswahlen an seiner Schule gegen Rassismus und die AfD eingesetzt hat.
Alleine zur Schule geht Leon W. nicht mehr, auch abends ist er nicht alleine unterwegs. Einschüchtern lassen will er sich aber nicht, im Gegenteil: „Ich fühle mich dadurch in meiner Arbeit gegen rechts bestärkt.“ Er wünscht sich jedoch von seiner Schule ein stärkeres Engagement gegen rechts.
In den vergangenen Jahren haben rechtsextreme Vorfälle an Berliner Schulen stark zugenommen. Initiativen, die Beratungen zum Umgang mit Rechtsextremismus anbieten, berichten von zunehmender Überlastung. Laut der Bildungsgewerkschaft GEW wurden bei der Schulsozialarbeit 3,5 Millionen Euro gekürzt, für den kommenden Haushalt drohen weitere Kürzungen.
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