: „Wegen dieses Urteils werden Menschen sterben“
US-Bundesstaaten dürfen Geschlechtsangleichung bei Jugendlichen verbieten, entschied das Oberste Gericht. Bean Chapman, Elternteil eines trans Sohnes, hält das Urteil für eine Katastrophe

Interview Marina Klimchuk
taz: Bean Chapman, nirgendwo in den USA wurden in den letzten Jahren so viele Gesetze gegen die LGBTQI+-Community verabschiedet wie in Ihrem Heimatstaat Tennessee im Südosten der USA. Wie geht es Ihnen als Familie?
Bean Chapman: Ich lebe in ständiger Angst, dass jemand meinem Sohn etwas antun könnte. Dabei wohnt er seit fünf Jahren nicht mehr in unserer Stadt. Er ist Einzelkind und unser Ein und Alles. Aber für uns als Familie war klar, dass er hier nicht bleiben kann. Er studiert Tausende Kilometer weit weg an der Westküste. Dort hat er Zugang zu geschlechtsangleichender medizinischer Versorgung. Ich möchte nicht zu viele Details über ihn preisgeben. Wenn er sich ein paar Tage nicht meldet, male ich mir die schlimmsten Szenarien aus. Ich hoffe, dass wir im nächsten halben Jahr in seine Nähe ziehen können.
taz: Seit Trumps zweiter Amtszeit hat sich die Situation für trans Menschen insbesondere in Tennessee verschärft.
Chapman: Es gibt mehr offenes Mobbing, und es findet ein Normalisierungsprozess statt. Politiker beschimpfen trans Menschen jetzt offen im Kongress und niemand wird dafür zur Rechenschaft gezogen. Wir erleben einen Exodus von Familien mit trans Kindern. Sie ziehen in andere Bundesstaaten, nach Kanada, Puerto Rico, Panama. Wer genug Geld hat, auch nach Europa, etwa Spanien und Portugal. Viele Eltern sind verzweifelt und tun alles, um ihre Kinder zu schützen. Es gibt Jugendliche, die sich das Leben genommen haben. Konversionstherapie ist legal in Tennessee. Manche Eltern zwingen ihre Kinder dazu.
taz: War das politische Klima anders, als Ihr Kind sich outete?
Chapman: Mein Sohn hatte sein Outing, als er 14 Jahre alt war. Wäre die Lage in Tennessee damals so gewesen wie heute, wären wir sofort weggegangen. Queere Menschen haben immer mehr Angst um ihre körperliche Unversehrtheit. Vor Kurzem besuchte er uns, weil ich eine Operation hatte. Er sagte: „Ich will hier keinen Tag länger bleiben als nötig.“
taz: Gleichzeitig gibt es heute mehr Sensibilität für das Thema.
Chapman: Das stimmt. Wenn ich neun Jahre zurückdenke, ist die Sichtbarkeit heute eine ganz andere. Wir hatten damals keine Ahnung, was zu tun ist, und haben endlos recherchiert. Als Erstes machten wir uns auf die Suche nach anderen Menschen, die trans Kinder hatten. Eine Stunde entfernt von hier fanden wir eine Gruppe für LGBTQ-Familien. Der Kinderarzt unseres Sohnes war zwar großartig, hatte aber keine Erfahrung mit solchen Situationen. Die Schule war überfordert, weil sich noch nie ein trans Jugendlicher geoutet hatte. Heute vernetzen sich Familien über Facebook, man trifft sich zum Picknicken, es gibt Listen mit Friseursalons und Ärzten, die für trans Jugendliche sensibilisiert sind.
taz: Die Suizidalität bei trans Menschen ist auch ohne feindselige Gesetze sehr hoch. Wie wirkt das politische Klima auf das Leben von trans Jugendlichen?
Chapman: Schon Ende 2024 hatten wir hier im Bundesstaat 22 Gesetze, die queere und trans Menschen angreifen, und im Moment ist unser Gouverneur dabei, weitere zu verabschieden. Diese Gesetze sind oft mit Absicht vage formuliert und lassen Spielraum, den Schule und Polizei nach ihrer eigenen Interpretation nutzen können. Es geht de facto darum, ein Klima der Angst im Klassenzimmer zu schaffen. Letztes Jahr wurde das „Don’t Say Trans“-Gesetz erlassen. Seitdem sind Transgender-Themen in Schulen verboten.
taz: Sind Gesetze dieser Art zur symbolischen Abschreckung gedacht? Oder manifestieren sie sich tatsächlich im Schulalltag?
Chapman: Wenn Lehrer:innen von Schüler:innen gebeten werden, sie mit ihrem gewählten Namen oder Pronomen anzusprechen, oder sie die Toilette des Geschlechts nutzen wollen, mit dem sie sich identifizieren, sind Lehrer:innen qua Gesetz verpflichtet, die Verwaltung der Schule zu informieren. Die muss beide Elternteile informieren. So entsteht eine Kultur des Denunziantentums und der Überwachung: „Gender Policing“. Dabei gibt es gerade zum Thema Pronomenbenutzung Studien, die belegen, dass eine Namensänderung und die Verwendung von anderen Pronomen einen riesigen Effekt auf das Wohlbefinden eines Jugendlichen haben kann. Das kostet kein Geld und bedarf keines medizinischen Eingriffs, verringert aber das Risiko eines Suizids. Wenn du unseren Politikern zuhörst, klingt es so, als ob eine Epidemie von trans Kindern ausgebrochen wäre, die alle nach Pubertätsblockern dürsten. Tatsächlich geht es um einen winzigen Bruchteil. Was diese Kinder brauchen, ist Liebe, Wertschätzung und Anerkennung. Nur sehr wenige wollen eine Hormonbehandlung.
taz: Auch die Lehrkräfte bringt das in eine unmögliche Lage.
Chapman: Bei weniger als der Hälfte aller Jugendlichen, die sich als trans oder nichtbinär identifizieren, wissen beide Elternteile Bescheid. Oft ist nur eine:r die Vertrauensperson. Bei einem Drittel aller Jugendlichen, die Angst haben, sich zu Hause zu outen, weiß eine Lehrkraft Bescheid. Oft hat diese Person eine Schlüsselfunktion. Sie signalisiert: Hier in der Schule kannst du sein, wer du bist, wenn das zu Hause nicht geht. Jetzt befinden wir uns in einer Situation, in der sich Lehrer dazu genötigt sehen, Gesetze zu brechen, um ihre Schüler:innen zu schützen.
taz: Gibt es einen Unterschied zwischen öffentlichen und privaten Schulen?
Chapman: Was an öffentlichen Schulen gilt, wurde in einem separaten Gesetz auch für Privatschulen, Internate und Ferienlager durchgesetzt. Es verlangt, dass trans Kinder und trans Jugendliche dort nur die Toiletten und Umkleidebereiche benutzen dürfen, die ihrem bei der Geburt zugewiesenen biologischen Geschlecht entsprechen. Viele Eltern unterrichten ihre Kinder jetzt zu Hause. Aber viele Materialien für den Unterricht zu Hause sind auf christliche Erziehung ausgerichtet. Jetzt stehen sie vor der Herausforderung, diese anzupassen.
taz: Hinter den Angriffen stehen mächtige Lobbygruppen.
Chapman: Und zwar immer von evangelikalen Christen. Die größte Organisation ist die Heritage Foundation, die ihre Finger überall im Spiel hat. In die Gesetzesanträge fließen Millionen Dollar. Und es wird mit „Wine-and-dine“-Bestechungsstrategien gearbeitet. Sie umgarnen Politiker so lange, bis sie bekommen, was sie wollen. Diese Leute gehen extrem schlau vor. In Tennessee ist die lokale Berichterstattung schwach. Einiges wird fast unbemerkt durchgesetzt.
taz: Tennessee wurde zum Präzedenzfall. Der Staat verbietet Hormontherapien und Pubertätsblocker für trans Jugendliche. Seit 2021 haben 24 US-Bundesstaaten ähnliche Verbote verabschiedet. Am Mittwoch hat das Oberste Gericht ein Urteil gesprochen: Das Verbot zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen, die unter Geschlechtsdysphorie leiden, sei rechtmäßig. Erstens diskriminiere das Gesetz von Tennessee trans Personen nicht aufgrund ihres Geschlechts. In der medizinischen Wissenschaft werde zweitens über Nutzen und Risiken solcher Therapien gestritten.
Chapman: Da der Oberste Gerichtshof das Gesetz in vollem Umfang bestätigt hat, öffnet dies jedem Bundesstaat die Tür für die Verabschiedung solcher gefährlichen Gesetze, die in Zukunft möglicherweise auch das Verbot der Gesundheitsversorgung für trans Erwachsene beinhalten werden, die so ihre einzige Möglichkeit der Gesundheitsversorgung verlieren würden. Es ist erwiesen, dass geschlechtsbejahende medizinische und psychologische Behandlung Leben rettet und das psychische Wohlergehen verbessert. Das sehen auch zwei der großen medizinischen Vereinigungen in den USA so, die American Academy of Pediatrics und die American Medical Association. Das ist ein traumatischer Tag für trans Jugendliche und ihre Familien, für uns ist das ein katastrophales Urteil. Menschen werden wegen dieses Urteils sterben.
taz: Sie sind selbst nichtbinär. Hängt die Geschlechtsangleichung Ihres Sohnes auch mit Ihrer eigenen Identität zusammen?
Chapman: Ja, weil wir als Familie einen Ort geschaffen haben, an dem man sich selbst entdecken kann. Nicht den Erwartungen anderer zu entsprechen, war eine der größten Herausforderungen in meinem Leben. Das Geschlecht kommt allem in die Quere, wenn man es zulässt. Ich wollte das nicht für mein Kind. Es brauchte mehr als zwanzig Jahre Elternschaft, geschlechtsangleichende Operationen und neun Jahre LGBTQ-Aktivismus, um den richtigen Namen für meine eigene Identität zu finden. Es ist ein Glück, ein trans Kind erziehen zu dürfen. So viele mutige junge trans Menschen kennenzulernen, war ein Geschenk. Wenn sie so mutig sind, ihre Identität laut zu leben, dann kann ich das auch tun.
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