Wahlsieger Winfried Kretschmann: Langsam, aber nachhaltig
Winfried Kretschmann hat die Nichtinszenierung von Politik perfektioniert. Das Klima ist sein Thema – links ist er aber nicht.
W infried Kretschmann nimmt schon mal auf der Regierungsbank des Landtags Platz. Aber da sitzt ja schon einer, es ist der Fraktionschef der Liberalen, Hans-Ulrich Rülke. Sie begrüßen sich mit Ellenbogencheck. Rechts davon kommt SPD-Chef Andreas Stoch dazu. Nein, dies ist nicht die neue Regierungsbank. Es handelt sich bei dieser Veranstaltung um die abendliche Pressekonferenz zur Wahl in Baden-Württemberg, die aus Gründen der Pandemie im Plenarsaal des Stuttgarter Landtags stattfindet und zu dieser gewöhnungsbedürftigen Sitzordnung führt.
Aber es könnte auch eine Vorschau auf eine kommende Ampelkoalition sein. Denn anders als bei der letzten Wahl wollen nun alle mit Winfried Kretschmann, dem unbestrittenen Liebling der Wähler und Grünen-Superstar. Der 72-Jährige ist auf dem Zenit seines Erfolgs. Die Kretschmann-Grünen sind in Baden-Württemberg als stärkste Kraft fest verankert. Grüne Themen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen, so wie es Kretschmann schon vor Jahrzehnten angekündigt hat. Und auch seine Bundespartei hat endlich eingesehen, dass man nur mit Pragmatismus in die Nähe der Regierung kommt.
Mit diesem Votum im Rücken könnte Kretschmanns letzte Regierungsperiode auch seine grünste werden. „Klimapolitik, Klimapolitik und nochmal Klimapolitik“ sei das Projekt seiner dritten Amtszeit, so hat es Kretschmann schon vor der Wahl ungewohnt kämpferisch angekündigt. Ökologischen Tüftlergeist vorantreiben, Technologien fördern, die den Klimawandel aufhalten. Gleichzeitig den Strukturwandel in der Autoindustrie gestalten, weg vom Verbrenner. Und dann will er auch noch das gesellschaftspolitische Markenzeichen seiner Regierungszeit fest im politischen Alltag verankern: „Die Politik des Gehörtwerdens“, also das Mitspracherecht der Bürgerinnnen und Bürger.
Der langsame Kretschmann
Große Ambitionen für einen, der als Zauderer gilt und von sich selbst sagt, er sei ein langsamer Politiker. In den letzten Jahren sei zu wenig von dieser grünen Politik umgesetzt worden, sagen seine Kritiker. Kretschmann entgegnete auf einem Parteitag: „Wenn ihr mehr grüne Politik wollt, müsst ihr mir eine absolute Mehrheit verschaffen.“ Dafür hat es nicht ganz gereicht. Aber die Grünen und Kretschmann sitzen so fest im Sattel wie nie. „Wir sind die neue Baden-Württemberg-Partei“, sagt er ganz ohne Ironie.
2011, vor zehn Jahren, wurde seine Wahl vom politischen Gegner noch als Ausrutscher der Wähler betrachtet, und viele seiner eigenen Leute hielten ihn für einen kauzigen Waldschrat aus einem provinziellen Bundesland. In dem konservativen Bundesland war Kretschmann also erst einmal darum bemüht, die Regierungsfähigkeit seiner Partei zu beweisen. Das geht über Symbole.
Anfangs fremdelte Kretschmann mit der Rolle des Landesvaters. Das sei ihm „zu paternalistisch“, sagte er. Aber ein Ministerpräsident ist nun einmal eine Mischung aus Bundeskanzler und Bundespräsident, also eröffnete er fleißig Stadtgeburtstagsfeiern und Freilichtmuseen, hobelte öffentlich Spitzkraut und Spätzle. „Hingehen, wo’s wehtut“, nannten Kretschmanns Mitarbeiter solche Landkreistouren etwas zu heldenhaft.
Nicht, dass ihm solche Feiern fremd gewesen wären. Schließlich aß er schon vor dem Einzug in der Villa Reitzenstein an Fasching, der hier Fasnet heißt, die traditionellen „Froschkutteln“ und traf sich mit seinem Schützenverein. Allerdings begegnete der neue Regierungschef bei seinen Besuchen im Land fast ausnahmslos konservativen Regionalfürsten, die den Ministerpräsidenten spüren ließen, dass sie ihn für einen Betriebsunfall der Geschichte hielten. Verunsicherung herrschte auf beiden Seiten. Unternehmen buchten damals beim ehemaligen Grünen-Politiker und heutigen Unternehmeranwalt Rezzo Schlauch Kurse, um sich erklären zu lassen, was da jetzt auf sie zukommt. „Grün für Anfänger“ sozusagen.
Gescheitert Die „Klimaliste Baden-Württemberg“ wird nicht in den Stuttgarter Landtag einziehen. Die Liste, die für die konsequente Einhaltung des 1,5-Grad-Zieles von Paris eintritt, schaffte nur 0,9 Prozent, was knapp 43.000 abgegebenen Stimmen entspricht.
Gesprochen „Wir haben im Wahlkampf konsequenten und sozial gerechten Klimaschutz zum landesweiten Top-Thema gemacht“, sagte Vorstandsmitglied Alexander Grevel. Die Klimaliste werde nun weiter Druck machen. „Wir wollen die progressiven Kräfte stützen, damit in den Koalitionsverhandlungen endlich wirksame Maßnahmen beschlossen werden.“
Gefürchtet Vor der Wahl war spekuliert worden, wie viele Stimmen die Klimaliste den regierenden Grünen abnehmen könnten. Ministerpräsident Kretschmann hatte gesagt, die Gründung der Klimaliste könne „gravierende Folgen“ haben, falls es durch sie nicht zu einer Regierung reiche.
Gestutzt Wenn alle WählerInnen der Klimaliste grün gestimmt hätten, hätte Grün-Rot eine knappe Mehrheit. Jetzt können die Grünen entweder die grün-schwarze Koalition fortsetzen oder ein Ampelbündnis vereinbaren. (US)
Lange her. Heute scheint Winfried Kretschmann die Rolle des Landesvaters auf den Leib geschrieben.
Der Zuhörer Kretschmann
Ortstermin im Kaiserstuhl westlich von Freiburg im späten Pandemie-Sommer. Der Bürgermeister von Vogtsburg wartet mit ein paar Kaiserstühlern hinter Coronamasken auf die Ankunft des Regierungschefs. „Früher habe mer singe müsse, wenn der Ministerpräsident kam“, sagt ein Alt-Vogsburger. Aber das sei ja heute nicht mehr in Mode. Ein Teenager schaut verständnislos. Ein Mann hebt ein Verkehrshütchen wie eine Fanfare, als der Konvoi des Ministerpräsidenten einfährt.
Genossenschaftswinzer sind nicht unbedingt Grünen-Wähler. Deshalb sagt Kretschmann gleich, er komme hier nicht als Ministerpräsident der Grünen, „das wäre ja schlimm“. Dann macht er sich in der Hitze auf zu einer ausgedehnten Wanderung durch den Weinberg, bei der die Winzer über ihre Nöte bei Bewässerung und Schädlingsbekämpfung reden und der Ministerpräsident bedächtig nickt.
Zuhören sei der Sinn solcher Reisen, findet Kretschmann, nicht für Fotografen zu posieren oder den Leuten nach dem Mund zu reden. Dann schon lieber mal einen potenziellen Wähler vor den Kopf stoßen. Etwa wenn der Vorsitzende der Freiwilligen Feuerwehr später wünscht, dass man ehrenamtliches Engagement doch mit Punkten für die Rente belohnen könne. „Schminken Sie sich das mal ab“, sagt Kretschmann da geradeheraus, „da will ich Ihnen mal nullkommanull Hoffnungen machen.“
Das sind so Momente, wo Mitarbeiter und Kommunikationsstrategen um ihn herum mit den Augen rollen und sich wünschen, er würde sich enger an die Briefings halten, die sie ihm immer kurz vor den Auftritten in dunklen Mappen zustecken. Denn so berechenbar Kretschmann in seinen politischen Zielen auch ist, so unberechenbar ist er manchmal für enge Vertraute in seinen direkten Reaktionen. Das führt dann schon mal dazu, dass er spontan fordert, die Lehrer sollten auf einen Teil der Sommerferien verzichten, um das Coronaschuljahr nachzuholen. Als sich Protest regt, entschuldigt er sich grinsend, er habe nur mal „laut gedacht“.
Oder er plaudert beim Bühnentalk mit Harald Schmidt aus, dass er Robert Habeck wegen seiner Regierungserfahrung als Spitzenkandidat der Grünen gegenüber Annalena Baerbock bevorzugen würde. Im letzten Jahr dann sagte Kretschmann, dass sich die Bundespartei keine Hoffnungen darauf zu machen bräuchte, den Bundeskanzler zu stellen, das gäben die Zahlen nicht her. Und wieder muss sein Presseteam die Wogen glätten.
Man kann das bei einem Politprofi wie Kretschmann für naiv halten. Er selbst hat seinen Schwächen gegenüber eine entwaffnende Lässigkeit entwickelt, die man als Journalist jeden Dienstag in der Regierungspressekonferenz besichtigen kann. Dort lässt er sich zu Beginn zu jedem Thema befragen und versucht gar nicht erst zu kaschieren, dass er die Fakten nicht immer parat hat.
Winfried Kretschmann hat die Nichtinszenierung von Politik nahezu perfektioniert. Da ist einer, der die öffentliche Meinung nicht an Umfragen orientiert mit glattgeschliffenen Sprachregelungen zu manipulieren versucht. Kretschmann ist das Gegenmodell zum österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz. Wenn man so will, ein Gegen-Kurz. Das bewährt sich in unsicheren Zeiten, die Populisten für sich nutzen wollen. „Wir können Krise“, sagt Ministerpräsident Winfried Kretschmann angesichts der Pandemie. Auch wenn Impfen und Testen bei Weitem nicht so rund läuft, wie man sich das im Musterland vorstellt.
Der krisenerprobte Kretschmann
Doch Kretschmann hat Übung in politischen Ausnahmesituationen. Schließlich waren es zwei Krisen, die ihn ins Amt brachten. Zuerst der Protest gegen den Stuttgarter Tiefbahnhof „Stuttgart 21“ und dann der berstende Reaktor im fernen Fukushima, der die Atompolitik der baden-württembergischen Regierung Mappus vollends unglaubwürdig machte. Der werde sich schon entzaubern, hatte die Union nach dem Regierungswechsel 2011 machtgewiss verkündet. Für sie war der Machtverlust nach 58 Jahren die eigentliche Katastrophe, nicht der verheerende Wasserwerfereinsatz gegen friedliche Stuttgart-21-Protestierer oder die Atomhavarie in Japan.
Kretschmann befriedete den Konflikt um den Bahnhof mit einem Volksentscheid, dem er sich als Gegner des Großprojekts auch selbst unterwarf. Dann kam die Flüchtlingskrise 2015 und der Ministerpräsident stand treuer an der Seite der Kanzlerin als der damalige CDU-Spitzenkandidat in Baden-Württemberg. Kretschmann gewann erneut, und die CDU musste als Juniorpartner am grünen Kabinettstisch Platz nehmen.
Auch jetzt, im ersten Wahlkampf unter Pandemiebedingungen, als sich seine Herausforderin Susanne Eisenmann mit Öffnungsforderungen von Kretschmann abzugrenzen versucht, wählen sie lieber den Kandidaten, der selbstgewiss plakatiert „Sie kennen mich“. Es ist ja auch wahr. Selbst der eingefleischteste Kretschmann-Gegner, und von ihnen gab es früher bei den Grünen eine ganze Menge, kann nicht behaupten, dass er ihnen etwas vorgemacht hätte. „Ich bin nicht links“. beteuert er seit Jahrzehnten.
Der grüne konservative Kretschmann
Kretschmanns revolutionäre Phase ist mit zwei Jahren denkbar kurz. Aus dem KBW, einer maoistisch-leninistischen Kadergruppe, rettet ihn seine heutige Frau in den 1970ern mit gesundem Pragmatismus. Heute verabscheut er Ideologien und entdeckt sie sogar beim Winzertermin am Kaiserstuhl. Sie sollten doch mal aufhören, sortenreine Weine zu keltern, „das sei doch reine Ideologie“, sagt er den verdutzten Weinbauern, die so stolz auf ihren Riesling und Spätburgunder sind. Die Franzosen „panschen doch auch alles zusammen, bis es schmeckt“.
Winfried Kretschmann, 1984
Als die Grünen 1980 gegründet werden, tritt Kretschmann bei, weil der Biologielehrer den ökologischen Gedanken für „einen Jahrhundertgedanken“ hält. Zusammen mit dem späteren Herausgeber der Welt Thomas Schmid gründet er die Ökolibertären, staatsferner als die Realos. Schon damals, mit gescheitelten Haaren und im gemusterten Pullunder, findet er, die Grünen müssten Mehrheiten quer zu den politischen Lagern anstreben. In der taz erklärt er 1984: „Mein Politikverständnis ist evolutionär. Ich akzeptiere die Verhältnisse, so wie sie sind, ich begebe mich hinein und baue daran weiter.“
Da hatte ihn seine Partei gerade als Spitzenkandidaten demontiert. Als sie in der Nachrüstungsdebatte auf Pazifismus setzte, war das für ihn ein Irrweg. Früher und offener als etwa ein Joschka Fischer bekennt er ganz schwäbisch ungeschützt: „Ich bin von Haus aus kein Pazifist und bin schon von Natur aus der Typ, der sich verteidigt und dem anderen dabei auch mal eins in die Fresse bügelt.“
Und so richtet sich Kretschmann über Jahre in der Position des Außenseiters seiner Partei ein, der Karl Popper näher ist als Marx. Er ist mal im Landtag drin, dann wieder draußen. Bis zu seiner Wahl zum ersten grünen Ministerpräsidenten der Republik ist das eine ziemlich provinzielle und wenig glanzvolle Politikerkarriere. Und noch im Wahlkampf 2011 wollen die Parteifreunde ihm, dem dickschädeligen Oberrealo, noch einen Linken als Spitzenkandidaten an die Seite stellen.
Keine Hand regt sich auf dem Grünen-Bundesparteitag 2016, als er dort erklärt, warum Baden-Württemberg weiteren sicheren Herkunftsländern zugestimmt hat und der Asylkompromiss trotzdem ein grüner Erfolg ist. Seine Ausbrüche gegen ein Dieselverbot machten im Netz und in der „heute-Show“ Karriere. Zuletzt regte sich Widerstand in der sonst so zahmen grünen Landtagsfraktion, als sich Kretschmann zusammen mit den Ministerpräsidenten der beiden anderen Autoländer Bayern und Niedersachsen für eine Diesel-Abwrackprämie einsetzte. Würde er heute nicht mehr machen, mault Kretschmann. Und bleibt doch dabei, dass es für das Klima besser gewesen wäre, wenn sich die Leute damals einen neuen Diesel gekauft hätten als einen Benziner.
Ein „grünes Waziristan“ sei dieses von Kretschmann regierte Baden-Württemberg, soll Jürgen Trittin in Berlin schon vor Jahren gemault haben. Als sei das grün regierte Bundesland Rückzugsgebiet für eine radikale Minderheit, die nichts mit der Restpartei zu tun hat.
Doch mit dem anhaltenden Erfolg Kretschmanns hat sich das Verhältnis zur Partei entspannt. Das mag auch an gemeinsam durchlittenen Verhandlungsnächten zur gescheiterten Jamaika-Koalition in Berlin 2018 gelegen haben. Von denen erzählt Kretschmann, Trittin und er hätten mit CDU und FDP so eine Art „Good-Cop-bad-Cop-Spiel“ getrieben. Während Trittin die Preise für eine Ampelkoalition hochgetrieben habe, habe er versucht Brücken zu bauen. Grüner Brückenbauer ins bürgerliche Lager ist Kretschmanns Rolle, von ihr wird er jetzt nicht mehr abweichen.
Am Wahlabend bedankt sich Kretschmann artig bei den Wählerinnen und Wählern. Auch bei den 67 Prozent, die nicht für ihn gestimmt haben. Und gibt ein Versprechen: „Ich werde bei allem, was wir jetzt entscheiden, an das Ganze denken.“
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