Wahlen in Russland: Schlange stehen gegen Putin

Aus Protest kommen Tausende um Punkt 12 zu den Wahllokalen. Eine Möglichkeit, Unzufriedenheit zu zeigen – doch der Kreml hat sie im Blick.

Eine Menschenschlange vor einem Wahllokal in Moskau.

Stiller Protest um 12 Uhr mittags vor den Wahllokalen: Alexei Nawalny hatte vor seinem Tod dazu aufgerufen Foto: Mikhail Voskresenskiy/imago

MOSKAU taz | Die Menschen schleichen umher, schauen sich vorsichtig um und reihen sich in die Schlange an der Schule „Admiral Kusnezow“ im Westen Moskaus ein. Es ist Punkt 12 Uhr mittags in Moskau. Tag drei der Wahl eines Präsidenten in Russland, der keine Wahl zulässt und am Ende des Tages pompös den Sieger verkünden wird: Wladimir Putin, wieder zu dem gemacht, der er auch schon die vergangenen zwölf Jahre war.

Weder frei noch fair ist diese Wahl. Die Abstimmung ist eine perfekt inszenierte Legitimierungsmaßnahme der bestehenden Verhältnisse. Das Staatsfernsehen zeigt Menschen, die „zusammenstehen gegen den Westen“, „Patrioten unseres Landes“ eben, sagt der Moderator.

Die Zentrale Wahlkommission vermeldet bereits am Sonntagmorgen eine Wahlbeteiligung von mehr als 60 Prozent, auf Tschukotka im äußersten Osten des Landes liegt sie da bereits bei 80 Prozent, genauso hoch wie vom Kreml vor einem halben Jahr als Ziel gesetzt. Ähnlich hoch sollen die Zahlen in den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten sein, in denen niemand überprüfen kann, was an den Wahlurnen abläuft.

Der Druck ist überall hoch. Staatsangestellten werden Prämien geboten, zur Wahl zu gehen. Ihnen wird damit gedroht, sie würden ihre Stelle verlieren, wenn sie nicht „für den Richtigen“ stimmten. Soldat*innen, Ärzt*innen, Lehrer*innen, Mi­nis­te­ri­ums­mit­ar­bei­te­r*in­nen treten zuweilen geschlossen an die Urne. Manche müssen einen Screenshot ihrer elektronischen Abstimmung an ihren Chef schicken. Viele tun das, um keinen Ärger zu haben. „Ist doch eh schon alles entschieden im Kreml, auf meine Stimme kommt es nicht an“, sagen die Menschen dann.

Das Land ist nicht so geschlossen, wie es scheint

Auch jeder, der sich um 12 Uhr in die Schlange am roten Backsteingebäude unweit des Moskauer Ukrainski-Boulevards stellt, Familien mit Kinderwagen, ältere Frauen und jüngere Männer, weiß, dass diese Abstimmung die am stärksten manipulierte Wahl in den vergangenen 30 Jahren ist. Sie wissen, dass der Kreml sie als Ver­rä­te­r*in­nen bezeichnet und der Regierung ihre Unzufriedenheit bestenfalls egal ist.

Und doch kommen sie, stehen hier, wie auch vor anderen Wahllokalen des Landes, um genau das zu demonstrieren: ihr Nicht-einverstanden-Sein mit der Politik ihres Landes. „Mittag gegen Putin“ haben verschiedene oppositionelle Kräfte die Aktion genannt, damit die Machthaber anhand der Schlangen um eine bestimmte Zeit sehen, dass das Land nicht so geschlossen ist, wie sie es in ihren Propagandasendungen gern erzählen.

Etwa 100 Menschen stehen am Wahllokal 2567 an. „Ich stimme doch nicht für einen Mörder“, sagt Andrei, 43. Er hatte am Tag zuvor eine SMS der Behörden bekommen, nicht an der Aktion teilzunehmen. Denn diese weise „Anzeichen extremistischer Aktivitäten“ auf, so sieht es der Staat.

Andrei und seine Frau haben trotz Einschüchterung bewusst die Entscheidung getroffen, zu kommen. „Es ist ein Flashmob, wohl der letzte Strohhalm, an dem wir uns heute noch festhalten können. Ab morgen wird es schlimmer, die Repressionen werden zunehmen. Und wer weiß, was diesem Irren im Kreml noch alles einfallen wird“, sagt der Moskauer leise.

„Ich verstehe, was unsere Diktatur für uns noch parat hält“

Alexandra, schon weiter vorgerückt, sagt: „Ich bin gekommen, um mich nicht allein zu fühlen. Es gibt in unserem Land kaum mehr Orte, an denen sich Kri­ti­ke­r*in­nen des Systems finden dürfen. Das hier ist eine seltene legale Möglichkeit.“ Natürlich werde sie sich am Abend ärgern, wenn sie „die gemalten Resultate dieses Zirkus“, wie sie die Wahl bezeichnet, sehen wird. Sie werde wohl auch weinen, sagt sie: „Weil ich verstehe, was unsere Diktatur für uns noch parat hält.“ Doch in der 12-Uhr-Schlange könne sie Mensch sein und sehen, dass sie gar nicht so wenige seien.

Die fünf Polizisten, die die Wartenden in kleinen Gruppen ins Wahllokal lassen, wirken nervös, fast alle telefonieren. Die Aktion ist auch eine Art soziologisches Experiment, der Kreml wird – trotz aller Beschönigung – die Lage genau verfolgen, gerade auch die Aktionen der Unzufriedenen.

Die ersten Festnahmen gab es bereits um kurz nach Sonntagmittag, an den zwei Tagen zuvor war es ebenfalls zu Zwischenfällen gekommen, weil einige Frauen – die Zentralkommission bezeichnete sie als „Beschränkte“ und „Verräterinnen“ – Farbe in die Wahlurnen gegossen oder Wahlkabinen angezündet hatten. Ihnen drohen nun bis zu fünf Jahre Haft.

Auch vor den russischen Botschaften in mehreren europäischen Hauptstädten bildeten sich lange Schlangen. Die Witwe des in Haft verstorbenen Oppositionellen Alexei Nawalny, Julia Nawalnaja, reihte sich zur Stimmabgabe in Berlin ein. Warum dort, dazu äußerte sich ihr Team nicht. Außerdem demonstrierten dort rund 800 Menschen gegen den russischen Präsidenten.

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