Wahl zum Abgeordnetenhaus ungültig: Appell, nicht nur an Berlin
Das Urteil mag einen spezifischen Berliner Bezug haben. Den Hinweis der Richter nur an die Adresse der Pannen-Hauptstadt zu lesen, greift zu kurz.
D ie Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zu den zwölf Bezirksparlamenten sind ungültig. Dieses Urteil des Landesverfassungsgerichts vom Mittwoch ist eine Klatsche, ein Appell und (mindestens) ein Hinweis, der auch jene interessieren sollte, die das Urteil etwa aus juristischer Sicht für angreifbar betrachten.
Das Gericht hat sich viel Mühe gemacht und akribisch nachgerechnet, wie viele Menschen wie von den vielen Pannen beim Urnengang am 26. September 2021 betroffen waren und gewesen sein könnten: weil keine Stimmzettel mehr vorlagen, ihr Wahllokal vorübergehend geschlossen wurde, die Schlangen stundenlanges Warten erforderten.
Die Schuld an dem Chaos sieht das Gericht weniger bei den Ausführenden am Wahltag, sondern vielmehr bei den Organisator*innen, sprich der damaligen Landeswahlleiterin und dem damaligen Innen- und heutigen Bausenator Andreas Geisel (SPD). Erstere ist bereits kurz nach dem Debakel zurückgetreten; entsprechende Forderungen gegenüber dem Letzteren werden jetzt noch lauter werden. Zu Recht.
Das Urteil mag einen spezifischen Berliner Bezug haben, begründet in den komplexen Strukturen von Land und Bezirken. Man kann es aber auch lesen als Aufruf, Wahlen als zentrale demokratische Aufgabe und Möglichkeit zur Teilhabe ernster zu nehmen und bei der Vorbereitung gerne noch genauer hinzuschauen, damit sich ein solches Debakel nicht wiederholt. Auch nicht in einem anderen Bundesland. Schließlich entstanden die Fehler nicht durch Wahlmanipulation oder ein Naturereignis.
Das zeigt sich beim Umgang mit den Wahlprognosen von Umfrageinstituten, die derzeit Punkt 18 Uhr am Wahlabend veröffentlicht werden. Das Gericht hat umfassend ausgeführt, welche Folgen ein dadurch „beeinflusstes Wahlverhalten“ haben kann, wenn die Wahllokale aufgrund großer Nachfrage später schließen müssen – was durchaus vorkommen kann. Das Urteil ausschließlich als ein erneutes Beispiel für die Pannen-Hauptstadt Berlin zu bewerten, greift damit definitiv zu kurz.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind