Wählen für Menschen mit Behinderung: Sollen Egemen und Achmad weg?
Mein Sohn hat eine geistige Behinderung. Damit er wählen kann, müssten Formulierungen gefunden werden, die sich auf seine Lebenswirklichkeit beziehen.

W enn ich meinen Sohn Willi frage: „Möchtest du Pizza oder Nudeln?“, dann kenne ich seine Antwort schon vorher. Er wird begeistert „Jaaaaa“ rufen und sich grinsend an den Tisch setzen. Auf die Frage: „Möchtest du Pizza oder Grünkohl?“, würde er mit einem empörten Kopfschütteln reagieren und vielleicht noch mit zusammengekniffenen Augen „Ii i i iiii“ hinzufügen. Entweder-oder-Fragen kann er nicht beantworten. Es müssen Ja-Nein-Fragen sein, um ihn mitentscheiden zu lassen. Und Willi möchte entscheiden!
Von politischen Wahlen waren die rund 80.000 Menschen in Deutschland mit sogenannten geistigen Behinderungen, die in allen Bereichen betreut werden, bis vor Kurzem ausgeschlossen. Nachdem mehrere Betroffene Beschwerde eingelegt hatten, stellte das Bundesverfassungsgericht 2019 allerdings fest, dass dieser pauschale Wahlausschluss verfassungswidrig war.
Wer Willi kennt und erfährt, dass auch er an den nächsten Wahlen teilnehmen darf, reagiert meist amüsiert. Da Willi nicht sprechen kann, wird ihm oft auch die Fähigkeit zu denken abgesprochen. Dass die Fähigkeit zu sprechen aber gar nichts mit der Fähigkeit zu denken zu tun haben muss, davon konnte man sich in so mancher Wahlkampfrede ausgiebig überzeugen.
Trotzdem gebe ich zu, dass es auch mir zuerst skurril vorkam, dass Willi bald wahlberechtigt sein wird. Als gesetzliche Betreuerin dürfte ich ihm dann zwar Hilfestellung geben, aber ausdrücklich nicht in seinem vermeintlichen Sinne für ihn entscheiden.
So steht es im Bundeswahlgesetz: „Ein Wahlberechtigter, der des Lesens unkundig oder wegen einer Behinderung an der Abgabe seiner Stimme gehindert ist, kann sich hierzu der Hilfe einer anderen Person bedienen. Die Hilfeleistung ist auf technische Hilfe bei der Kundgabe einer vom Wahlberechtigten selbst getroffenen und geäußerten Wahlentscheidung beschränkt.“
Und weiter: „Unzulässig ist eine Hilfeleistung, die unter missbräuchlicher Einflussnahme erfolgt, die selbstbestimmte Willensbildung oder Entscheidung des Wahlberechtigten ersetzt oder verändert.“
Bezogen auf Willis Nudel-Pizza-Angelegenheit könnten eine solche technische Hilfe Symbolbilder sein, auf die er zeigen kann (wobei ich in diesem Fall damit rechnen muss, dass er gleich mehrfach auf Nudeln und Pizza tippen und ein Grünkohlbild erbost vom Tisch fegen würde).
In einer Internetgruppe für Eltern von Menschen mit Behinderungen habe ich gefragt, wie es die anderen mit dem Wählen halten. Einige Familien hatten bei der Bundestagswahl 2021 die Erfahrung gemacht, dass sie trotz des geänderten Wahlrechts nicht mit ihren erwachsenen Kindern in die Wahlkabine gelassen wurden. Sie wählen nun per Briefwahl und bleiben so wieder unsichtbar für alle anderen. Viele Eltern scheinen ihren Kindern jedoch keine politische Meinung zuzutrauen und lassen sie nicht wählen. Ein Vater gab zu, dass er nur für sein Kind das Kreuz machen würde und wurde als Wahlbetrüger beschimpft.
Andere berichteten, dass sie gemeinsam mit ihren Betreuten die Wahlprogramme in Leichter Sprache nutzen, die alle großen Parteien außer BSW und AfD zur Bundestagswahl zur Verfügung gestellt haben. Viele fanden auch den Wahl-O-Mat sehr hilfreich.
Für geistig stark eingeschränkte Menschen müssten die Fragen und Informationen aber noch viel stärker vereinfacht werden. Auf vielen Wahlplakaten scheinen die Parteien genau das zu versuchen, aber meist kommen dabei nichtssagende Schlagworte wie „Freiheit“, „Sicherheit“ oder „Zusammenhalt“ heraus, mit denen wahrscheinlich nicht nur Willi nichts anfangen kann.
Für ihn müssten konkrete Formulierungen gefunden werden, die sich auf seine Lebenswirklichkeit beziehen. Mit der einfachen Frage „Sollen Egemen und Achmad weg?“ wäre der Grünkohl unter den Parteien zumindest schon mal aussortiert.
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