piwik no script img

Vorwahlen in ArgentinienKehrtwenden und Schockwellen

Jürgen Vogt
Kommentar von Jürgen Vogt

Argentiniens Staatshaushalt steckt in der Krise. Die Ankündigung Javier Mileis, die Zentralbank abzuschaffen, könnte die Spannungen noch verschärfen.

Die Folgen der Kehrtwenden werden noch mehr Inflation, noch mehr Kaufkraftverlust sein Foto: Augustin Marcarian/reuters

A m Montag erreichten die Schockwellen Argentiniens Finanzmärkte. Zuerst wertete die Regierung die Landeswährung ab. Der offizielle Umtauschwert für einen Dollar stieg um 22 Prozent auf 365,50 Pesos. Dann erhöhte die Zentralbank den Jahresleitzins von 97 auf 118 Prozent. Was als Eindämmung einer Flucht aus dem Peso in den Dollar veranlasst worden war, stieß in den klandestinen Wechselstuben auf keine Resonanz. Der Preis für die US-Währung sprang um satte 80 auf 685 Pesos. Und an der Börse sackten die Aktienkurse argentinischer Unternehmen und Staatsanleihen um 11 Prozent ab.

Das eigentliche Beben aber hatte sich bereits am Sonntag bei den Vorwahlen zu der Präsidentschaftswahl im Oktober ereignet. Völlig überraschend war der selbst erklärte Anarcho-Kapitalist Javier Milei mit 30 Prozent der Stimmen als Bester aus der Kan­di­da­t*in­nen­kür hervorgegangen.

Die rechtsliberale Oppositionsallianz Juntos por el Cambio erhielt nur 28 Prozent und die linksprogressive Regierungsallianz Unión por la Patria lediglich 27 Prozent der Stimmen. Jedes Ergebnis hätte sich auf die verunsicherten Finanzmärkte ausgewirkt, doch Mileis Ankündigung, die Zentralbank abzuschaffen und den Dollar als alleinige Währung installieren zu wollen, sorgte erst recht für Hektik und Nervosität.

Vor der Wahl hatte Sergio Massa, Wirtschaftsminister und seit Sonntagabend Spitzenkandidat der linksprogressiven Regierungsallianz Unión por la Patria für die Präsidentschaftswahl, gebetsmühlenartig versichert, mit ihm werde es keine Abwertung geben. Dann, am Tag danach, die Kehrtwende. Die Folgen werden noch mehr Inflation, noch mehr Kaufkraftverlust sein. Schon jetzt leben 40 Prozent der Ar­gen­ti­nie­r*in­nen in Armut. Als ob die Regierung die Präsidentschaftswahl bereits abgeschrieben hätte.

8 Milliarden Dollar nach Buenos Aires

Massas Kehrtwende ist nichts weniger als ein Offenbarungseid. Bei den Staatsfinanzen sieht es düster aus. Seit Wochen verwaltet die Zentralbank sogenannte Negativreserven. Alte Dollarschulden können nur mit neuen Übergangskrediten getilgt werden. Es ist ein Leben von der Hand in den Mund. Nur die Notenpresse läuft mit voller Kraft und liefert immer wertloser werdende Pesos-Scheine. Ausgerechnet der Internationale Währungsfonds sorgte am Montag für etwas Beruhigung, als er ankündigte, in den nächsten zwei Wochen 8 Milliarden Dollar nach Buenos Aires zu überweisen.

Was sich mit dem Ergebnis der Vorwahlen außenpolitisch ändern könnte, wird sich bereits beim Gipfeltreffen der Brics-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) in einer Woche zeigen. Die argentinische Regierung bemüht sich bisher um einen Beitritt zu dem Schwellenländerbündnis – mit guten Erfolgsaussichten. Sollte im Dezember ein rechtsgerichteter Präsident ins Amt kommen, dürften diese Bemühungen eingestellt werden und eine stärkere Ausrichtung auf die USA erfolgen.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Jürgen Vogt
Korrespondent Südamerika
Kommt aus Karlsruhe. Studierte Politische Wissenschaft in Hamburg und Berlin und arbeitete zwölf Jahre als Redakteur und Geschäftsführer der Lateinamerika Nachrichten in Berlin. Seit 2005 lebt er in Buenos Aires. Er ist Autor des Reisehandbuchs “Argentinien”, 2024, Reise Know-How Verlag.
Mehr zum Thema

4 Kommentare

 / 
  • Wenn es stimmt, dass Wirtschaftsminister Sergio Massa der vom IWF seit langem geforderten Abwertung schon vor dem Wahlsonntag zugestimmt hat, dann hat er die Wahlberechtigten bis zum Wahltag zumindest getäuscht, um nicht zu sagen schlichtweg belogen. Es stimmt, eine Kehrtwende wäre das nicht.

  • In dem Artikel vermisse ich eine wichtige Information:



    Der IWF forderte von Argentinien die Senkung des offiziellen Wechselkurses um 22% auf 350 US$. Die weitere Auszahlung von 8 Mrd US$ ist gebunden an diese Abwertung. Offenbar hat Massa die Zentralbank erst am Montag morgen über diese unverzüglich umzusetzende Abwertung informiert. In der Nacht auf heute kam nun die Nachricht rein, dass Massa diese Abwertung dieses Anker-Wechselkurses herunterverhandelt hat.



    Diese zu geringe Abwertung ohne jeden Stabilisierungsplan war wohl eine sehr schlechte Idee. In den Programmen des Wirtschaftsjournalisten Maxi Montenegro wird dies alles seit Montag ausführlich besprochen und bewertet.







    Die anderen Wechselkurse sind sofort um die 22% gesunken. Die Abwertung verpufft also sehr schnell in Inflation. Der Sieg Mileis in den Vorwahlen hat mit dem Inflationsschub diese Woche überhaupt nichts zu tun. Futures auf den offiziellen Wechselkurses preisen nun bis Oktober eine weitere 20% Abwertung ein.



    In Argentinien gibt es nach meinen Informationen anders als zu Zeiten der Hyperinflation 1989nkeinerlei automatische Indexierung der Löhne und Renten auf die Inflation.

     

    Anm. der Red.: Kommentar gekürzt.

    • @Axel Janssen:

      Vielen Dank für die dringend notwenige ergänzende Information zum Kommentar von Jürgen Vogt. Mir bleibt es völlig unverständlich, wie der Autor dem Wirtschaftsminister und Präsidentschaftkandidat Massa "eine Kehrtwende und einen Offenbarungseid" diagnostiziert und dann wenige Zeilen später "ausgerechnet" dem IWF eine "beruhigende Wirkung" bescheinigt, ohne klar und deutlich auf den von ihnen dargestellten Zusammenhang hinzuweisen. Increíble.

      • @Robert Grosse:

        Meine Reaktion war ein bisserl aggressiv. Das tut mir gegenüber Herrn Vogt Leid. Der macht insgesamt einen guten Job. Vertrauen sie mir auch nicht. Ich denke heute anders als zu dem Zeitpunkt, als ich das geschrieben habe.



        DIE LAGE IN BUENOS AIRES IST SEHR UNÜBERSICHTLICH.



        Ich bin selbst Dienstag bis Donnerstag abend Javier Milei auf dem Leim gegangen. Dann habe ich die scharfe Kritik von Diego Giacomini an Mileis Dollarisierungs-Plänen.



        Giacomini ist ebenfalls Ökonom und hat 4 oder 5 Bücher mit Giacomini geschrieben, war also bis vor relativ kurzer Zeit sein Weggefährte.



        Empfehle die folgenden youtube Kanäle: "Plan M" und "ahora play" von Maxi Montenegro.



        Kanal von Diego Giacomini.