Vorbereitungen auf Gasknappheit: Europas Kippmoment ist da
Nun ist klar: Das Gas reicht in Deutschland nicht mehr für alle Zwecke aus. Energie wird zwar nicht versiegen – aber deutlich teurer werden.

D as Weltfinanzsystem samt deutscher Banken stand kurz vor dem Kollaps, als Kanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Peer Steinbrück im Oktober 2008 „den Sparerinnen und Sparern“ in „Tagesschau“-gerechten Sätzen versicherten, „dass ihre Einlagen sicher sind“. Nun verspricht Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, dass im Winter niemand frieren muss. Doch genauso, wie die Aussage zu den Sparbüchern nur zeigte, wie dramatisch die Finanzkrise war, wird nun erst recht deutlich, wie kritisch es um die Energieversorgung steht.
Dass die Bundesregierung die erste Stufe des „Notfallplans Gas“ ausgerufen hat, ist die Vorbereitung dafür, dass das Gas nicht mehr für alle Zwecke langt. Noch sei nichts knapp, betont Minister Habeck. Und tatsächlich ist es sehr unwahrscheinlich, dass Wohnungen im kommenden Winter hierzulande kalt bleiben. Laut dem Notfallplan würde Putins Lieferstopp VerbraucherInnen zuletzt treffen.
Zunächst wäre die pharmazeutische und chemische Industrie dran. Die Branche warnt bereits vor einem „industriellen Flächenbrand“; viele Lieferketten dürften zusammenbrechen. Eine schwere Rezession droht, ÖkonomInnen rechnen mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung von bis zu 6 Prozent. Zum Vergleich: Im Coronajahr 2020 sank diese um 4,6 Prozent, Millionen ArbeitnehmerInnen mussten kurzarbeiten und viele Betriebe dichtmachen; der Staat ging mit 270 Milliarden Euro in die Miesen.
Wenn jemand je am „Zeitenwende“-Ausspruch von Olaf Scholz nach dem Überfall auf die Ukraine gezweifelt haben sollte – Europas Kippmoment ist jetzt gekommen. Auch im Westen des Kontinents sind nun viele BürgerInnen Teil von Putins teuflischem Poker geworden. Am Mittwoch kündigte der Kreml an, nicht von heute auf morgen auf die Zahlung der Energierechnungen in Rubel bestehen zu wollen, die der Westen ablehnt, sondern erst nach und nach.
Auch andere Rohstoffe sind betroffen
Das heißt, das Zittern um ein mögliches Ende der Lieferungen des klimaschädlichen Erdgases kann sich noch lange hinziehen. Auch andere für den Westen wichtige Dinge will Russland nun in die Waagschalen des Konflikts werfen: So sollen für die hiesige Industrie relevante Rohstoffe wie Nickel, Titan oder Eisenerzeugnisse künftig in Rubel abgerechnet werden.
Sicher ist: Die Preise steigen weiter. Wenn Wladimir Putin den Finger am Gasknopf hält, wird Energie noch teurer als bislang. Höchst fraglich ist in diesem Zusammenhang, ob Habecks durchaus tapfere, aber nationale Einkaufstour in Arabien die Sache vergünstigt haben mag – oder ob ein gemeinsamer europäischer Einkauf nicht billiger wäre.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Leak zu Zwei-Klassen-Struktur beim BSW
Sahras Knechte
Wahlkampf in Deutschland
Rotzlöffeldichte auf Rekordniveau
Regierungsbildung nach Österreich-Wahl
ÖVP, SPÖ und Neos wollen es jetzt miteinander versuchen
Bildungsforscher über Zukunft der Kinder
„Bitte nicht länger ignorieren“
Buch über Strategien von AfD und Putin
Vergangenheit, die es nie gab
+++ Die USA unter Trump +++
Trump entlässt den Generalstabschef der US-Streitkräfte