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Von der Leyen in der TürkeiDie EU kapituliert vor Erdoğan

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Die EU-Kommissionspräsidentin hat mit ihrem Besuch in der Türkei ein Signal gesetzt: Die EU interessiert sich für Macht, nicht für Menschenrechte.

Ursula von der Leyen und Charles Michel waren am Dienstag zu Besuch bei Erdoğan Foto: Presidential Press Office/reuters

D ie EU interessiert sich nicht mehr für Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat in der Türkei. Anders ist es nicht zu erklären, dass Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel am Dienstag höchstpersönlich den türkischen Autokraten Erdoğan mit einem Besuch in Ankara adelten.

Denn es ist eine Sache, den Kontakt zur Türkei auf den normalen diplomatischen Kanälen offen zu halten, aber eine ganz andere, einen EU-Türkei-Gipfel in Ankara zu veranstalten. Dabei gibt es bislang nichts, was auf höchster Ebene besiegelt werden könnte. Er­do­ğan hat keine andere Vorleistung erbracht, als Gespräche mit Griechenland über die Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer auf untergeordneter Ebene wieder aufnehmen zu lassen. Ob etwas dabei herauskommt, ist völlig offen.

Während US-Präsident Joe Biden sich seit seiner Amtseinführung im Januar standhaft weigert, wegen der schlechten Lage in der Türkei mit Recep Tayyip Erdoğan auch nur zu telefonieren, reisen von der Leyen und Michel nach Ankara, als ob es etwas zu feiern gäbe. Dabei ist die Situation in der Türkei so schlecht wie lange nicht.

Erdoğan kündigt von einen Tag auf den anderen die völkerrechtlich verbindliche Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen, obgleich täglich Frauen überall im Land ermordet werden. Er will die kurdisch-linke Oppositionspartei HDP verbieten lassen und hat gerade eine neue Kampagne gegen die größte Oppositionspartei, die CHP, eingeleitet, der er einfach vorwirft, einen neuen Putsch vorzubereiten.

In einer solchen Situation Erdoğan mal eben in Ankara zu besuchen, ist mehr als instinktlos. Menschenrechtsaktivisten und oppositionelle Politiker sitzen seit Jahren im Gefängnis – obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ihre Freilassung gefordert hat.

Für die EU ist das offenbar kein Problem. Solange Erdoğan kein EU-Mitglied militärisch angreift und die syrischen Flüchtlinge davon abhält, in die EU weiterzureisen, ist die EU bereit, über alles andere hinwegzusehen. Das ist nichts anderes als eine Kapitulation vor einem Autokraten.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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20 Kommentare

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  • 8G
    83379 (Profil gelöscht)

    Die Türkei hat 3 Vorteile:

    - Die EU weis das sie eine erneute Flüchtlingskrise nicht überlebt, daher hat die Türkei hier eine massive Druckmöglichkeit, aus diesem Grunde ist sie auch unter anderem in Libyen involviert weil wenn die Türkei die Flüchtlingsrouten von da kontrolliert kann sie Europa absolut politisch dominieren.

    - Europa hat Angst das die Türkei militärisch mit ihrer großen Armee ins russische Lager wechselt. Dies würde massive Eröhrung der Verteidigungsausgaben der satten Nordeuropäer nötig machen.

    - Man braucht die Absatzmärkte der Türkei, Europas Wirtschaft liegt am Boden, Millionen neuer Pensionäre und Rentner kommen jedes Jahr dazu ohne das es genügend neue junge Arbeitnehmer gibt die Nachrücken daher ist der Staat verzweifelt auf der Suche nach allem was irgendwie ein bisschen mehr Steuereinnahmen generiert ohne Firmen und Bürger mit neuen Steuern zu schrecken.

    • @83379 (Profil gelöscht):

      die Eu wäre bescheuert wenn sie wegen einer neuerlichen Flüchtlingswelle 70 Jahre Entwicklung auf den Müllhaufen wirft, gerade wegen der bevorstehenden weltpolitischen Probleme. Einzelne könnten sich trotzdem ausklinken, wie Polen oder Ungarn. Vielleicht wäre das sogar die bessere Lösung, um uns den antidemokratischen Virus zu ersparen.



      - Europas Wirtschaft liegt am Boden. Leicht übertrieben. Und wenn dann werden wir kaum in der Türkei einen besonders großen Absatzmarkt für unsere Produkte finden. Wenn die Berichte stimmen, lebt ein Großteil der türkischen Bevölkerung nur noch von der Hand in den Mund. Ich glaube allerdings, dass die EU/ USA auch weiterhin Erdogan suchen zu beschwichtigen und ansonsten hoffen dass die Türkei mit ihm irgenwann ein soft landing hinbekommt. Ein Absturz der Türkei in Bürgerkrieg und Armut oder ein Wechsel zu Russland (China hat allerdings im Moment die besseren Argumente auf seiner Seite), würde uns auf jeden Fall teurer kommen.

  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    Mit jemanden, der die Menschenrechte - insb. die Pressefreiheit - mit Füßen tritt und massenhaft Leute ins Gefängnis wirft, verhandelt man nicht.



    Ich verstehe, dass man keine weiteren 4 Mio Flüchtlinge in Europa haben möchte, aber daran ist die EU auch nicht so ganz unschuldig.



    Man hätte frühzeitig gegen Assad vorgehen müssen, noch bevor die Russen sich stark engagiert hatten.

    Trump war ja fast soweit, die Regierungsgebäude in Damaskus mit Cruise Missiles auszulöschen. Die Europäer haben sich in diesem Fall schön rausgehalten.



    Zum Glück haben sie es im Irak-Krieg auch tatsächlich getan, außer UK mit Tony Blair.

    • @17900 (Profil gelöscht):

      "Trump war ja fast soweit, die Regierungsgebäude in Damaskus mit Cruise Missiles auszulöschen." habe ich was verpasst. Trump hat mal kurz reingeschossen um dicke Eier zu zeigen. Zu dem Zeitpunkt war die Lage auch schon zu weit verfahren. OBama hatte wirklich noch die Möglichkeit was zu bewegen, als er schon die Flugzeugträger vor der syr. Küste auffahren ließ. Leider hat er dann- fatale Entscheidungsschwäche- das ganze abgeblasen. naja aber amerik. Invasionen haben sich ja auch die letzten 20 Jahre nicht als wirkliche Erfolge erwiesen. Ich bin nach wie vor der Meinung dass es hinterher an der Nacharbeit mangelte, das Wort Nationbuilding, Anfang der 2000er eines der It- Wörter, nimmt inzwischen der niemand mehr in den Mund. Statt dessen herrscht wie's scheint absolute Ambitionslosigkeit, es werden irgendwelche "Mechanismen" und "Formate" "implementiert" bzw aufgeschrieben. Wahrscheinlich ungefähr die Entsprechungen der "Modellversuche" in der Coronapolitik.

  • Ich kann gar nicht so viel essen, wie ich k.... möchte.

  • Ich finde den Standpunkt des Autors zwar nachvollziehbar aber gleichzeitig reichlich infantil. Wie stellt er sich denn Außenpolitik vor? Ich rede nur mit Staaten die die Menschenrechte achten? Da bleiben dann nicht viele übrig. Die Türkei, ob es einem gefällt oder nicht, ist ein Schlüsselstaat in der Region mit dem man Beziehungen pflegen sollte.

  • "Menschenrecht" ist allmählich eine Marke wie andere auch.



    Einmal positiv geprägt kann man alles damit verkaufen.



    Das tut die EU und vor allem VDL.



    Schönsprech und hässliches Handeln gehen da Hand in Hand.

  • VDL ist die schlimmste Person, die jemals die UE-Kommission geleitet hat. Und wen wundert das nach ihren ministerialen Skandalen? Da wünscht man sich sehnsüchtig den Säufer zurück.

  • Die EU kapituliert vor dem türkischen Autokraten ... und in der Ostukraine ist sie bereit, notfalls auf volle Konfrontation mit Erdogans russischem Bruder im Geiste zu gehen?



    Demokratie, Menschenrechte, die türkische Zivilgesellschaft, das kurdische Recht auf Selbstbestimmung, die Sicherheit der türkischen Anrainerstaaten ... all das steht auf dem Spiel und wird geopfert, nur damit Erdogan mit dem Flüchtlingspakt ein Faustpfand in der Hand behält, um die EU weiter erpressen zu können?



    Das kann doch alles nicht wahr sein!

  • Was mich an dem Beitrag stört, ist die Formulierung "kapituliert vor", als sei allein E. Akteur & die EU reagiere nur, als ginge es also nur oder überhaupt um die türkische Politik. Die Migrationspolitik wird zwar erwähnt, aber nur am Rande, dabei ist das doch alles, worum es den europäischen Akteuren geht. Sie brauchen E. (plus zahlreiche weitere Autokraten, Diktatoren & Verbrecherbanden von Lybien bis Sudan) für IHRE verbrecherische Politik, die türkische Politik ist ihnen völlig schnuppe. So herum wird ein Schuh draußen.

  • Zitat: „Die EU interessiert sich für Macht, nicht für Menschenrechte.“

    Ist Ursula von der Leyen wirklich „die EU“? Ich meine: Die Behauptung „l’état c’est moi“ („Der Staat bin ich!“) wird Ludwig XIV zugeschrieben, und der Mann war ein absolutistischer Monarch. Frau von der Leyen ist angeblich Demokratin, wenn auch eine, die sich erkennbar mehr für Macht interessiert, als für die Menschen, die der Macht unterworfen sind. Was also will uns Jürgen Gottschlich sagen mit seiner Behauptung? Dass er von der Karrieristin an der EU-Spitze das Siegen gelernt hat?

  • Die Doppelmoral, die der Wertewesten hier am Beispiel der EU in der Türkei (re)präsentiert, ist atemberaubend.



    Ich habe noch nie verstanden, dass die Heuchelei um Menschenrechte nicht wesentlich stärker als ekelhaft abgelehnt wird.

  • In den 70. wurde ,das was der Menschenschinder und Verschwindenlasser Erdogan an politischen Gegnern und widerständigen Minderheiten ausübte "fascisme exterieure".



    Die Bundesregierungen und ökonomischen Machtkartelle , die damals etwa den griechischen Obristenputsch , die brutalen Diktaturen in AfrikLateinamerika , Südostasien usw. offen & direkt



    mit Geld , Waffenlieferungen unterstützten, waren daher objektiv Kumpane von politischen Großverbrechern.

    Zuhause aber gaben sie sich als brave Rechtsstaatler , alskapitalistische "Demokraten" und Gewaltgegner. Konsequente und millitante BRD-Sozialisten und linke Anarchisten durchschauten aber die widerliche Doppelmoral und begannen teils , die deutschen Unterstützer blutigster Gewalt auch zuhause zu bekämpfen.



    Die damals herrschenden BRD-Machtkartelle



    verhinderten , oft mit Unterstützung willfährigerd Medien , ihre Komplizenschaft mit grauenhaften Menschenschinder- und- Massenörderegimen zu verschleiern, sodaß der militante Widerstand gegen sie als böse, selbst kriminell dargestellt , niedergeschlagen , bekämpft werden konnte. "Unterdrückte Nachrichten" halfen den Machtkartellen dabei, der BRD-Bevölkerung die anständigen Politiker vorzugaukeln, die sie doch nur zur Hälfte waren.

    Im Falle Erdogan ist das heute anders: seine politverbrecherische Kaputtheit, sein "fascisme " ist, da beim Natokumpan stattfindend, nur ein halb- exterieurer , im Gegensatz zu den 70.Jahren & bundesweit durch Medien, das Internet usw EU-weit bekannt. Miit EU- Frau von der Leyen kriechen dennoch gemeinsam mit der spD.-cdU-Groko dem Gewaltherrscher E. in den A...



    Und kein demokratischer, rechtsstaatsbewußter Widerstand der BRD-Politik & -Bevölkerung ist zu registrieren.



    Dabei wären harte Sanktionen gegen den Staatsterroristen E.,das Mindeste ,was ein Nachnazi-Deutschland sich schuldig wäre!

  • Dass es der EU und Frau von der Leyen im besonderem nur um Macht geht ist keine Neuigkeit...im speziellen geht es um die Wahrung Deutscher Interessen, wer etwas anderes vermutet geht der PR Abteilung der EU auf den Leim!

    • @Seitenwechsel:

      Um Macht? Höchstens um persönliche oder nationale Macht, nicht um die Macht der EU. Denn die EU unter von der Leyen lässt sich am Nasenring durch die Gegend ziehen. Um kurzfristige wirtschaftliche Ergebnisse zu erreichen, wird die langfristige Perspektive Europas von ihr und den nationalen Regierungen zerstört.

      • @PPaul:

        Ich sage ja "um die Wahrung Deutscher Interessen"

        • @Seitenwechsel:

          Da ist was dran.

  • Widerlich. Aber der Wähler belohnt es ja. Sonst wäre Flinten-Uschi niemals auch nur Ministerin geworden, geschweige denn mehr. Die Leute wollen es ja alles so.

    • @kditd:

      Europäer interessieren sich übrigens noch nie für Menschenrechte, sonst hätte man nicht ab den 90ern so schwunghafte Beziehungen zu China gepflegt. Damals wurden dort noch Leute in Fußballstadien gehängt, das störte aber niemanden hier solange da alles so billig war. Hat sich auch nicht geändert.

      • @kditd:

        Richtig, und kann man auf viele Länder ausweiten. Inkl. Verbündete und Asylgesuche von z.B. Snowden etc.