Von der Hamas entführt und ungebrochen: Metal-Drummer Yotam Haim trommelte auch im Hamas-Tunnel
Tuval Haim erzählt die Geschichte seines Bruders Yotam. Er wurde von der Hamas nach Gaza entführt und nach seiner Freilassung versehentlich erschossen.

Am 7. Oktober 2023 sollte Yotam Haim beim vierten und bisher größten Konzert seiner Metal-Band Persephore am Schlagzeug sitzen. Er trommelte am Morgen dieses Tags auch – im Safe-Room seines Hauses im Kibbuz Kfar Aza, während um das Haus herum bereits Schüsse fielen. Dann setzten Terroristen der Hamas das Haus in Brand und zerstörten mit drei Schüssen das Schloss des Safe-Rooms. Yotam versuchte durch ein Fenster zu flüchten.
Seine Familie war bis dahin noch beruhigt gewesen. Wenn ihr Sohn und Bruder, mit dem sie bis zuletzt per Chat Kontakt hatten, Schlagzeug spiele, könne es so schlimm nicht sein, dachten sie. Es dauerte einige Zeit, bis sie erfuhren, dass er nicht ermordet, sondern nach Gaza entführt wurde und noch am Leben war.
Yotams Bruder Tuval Haim erzählt am Montagabend in Berlin die Lebensgeschichte seines Bruders. Es ist das erste Mal, dass er diesen Vortrag hält, zu dem er Fotos und Videos zeigt, sagt er. Yotam Haim kam krank zur Welt. Sein Darm war nicht in Ordnung, es war nicht klar, ob er überleben würde. Für Tuval Haim ist dieses Urtrauma seines Bruders eine Metapher für dessen Unbehagen in der Welt: „Something didn’t digest in this world for him“, sagt er. Es habe etwas gegeben, was sein Bruder nicht verdauen konnte.
Beide hatten Schwierigkeiten, im Kinderhaus ihres Kibbutz und in der Grundschule zurecht zu kommen, aber sein Bruder, sagt Tuval, hatte es noch schwerer. Yotam Haim litt unter psychischen Problemen, entwickelte mit 17 eine Anorexie und kämpfte schon als Kind mit vielen Ängsten: Was, wenn die Welt explodiert? „Oft sahen ihn die Erwachsenen nicht“, sagt Tuval.
Zur Bar-Mizwa nach Wacken
Vater Raviv hatte den Brüdern früh das Schlagzeugspielen beigebracht. Tuval begann bald professionell zu trommeln, Yotam entdeckte erst später seine Liebe zu den Drums. Als die Frage aufkam, was sich Yotam für seine Bar-Mizwa wünschen sollte, hatten die Brüder eine Idee: ein Trip auf das legendäre Metal-Festival im norddeutschen Wacken. Da fuhren sie dann auch hin, mit ihrer Mutter und Freunden.
Yotam meldete sich freiwillig zur Armee, in der Hoffnung, dass sein Leben dann endlich normal verlaufen würde, wurde aber nach drei Wochen entlassen, wofür er sich schämte. Der Stress und der Konkurrenzdruck, den das geplante Studium in einer renommierten Musikschule in ihm auslöste, war so stark, dass er gar nicht erst hin ging.
Er kochte in einem Sushirestaurant und spielte Basketball. Als Persephore einen Drummer suchte, fuhr er zu einer Probe, alles lief gut. Als er zum zweiten Mal vorspielte, bekam er eine Panikattacke. Ein halbes Jahr kämpfte er mit sich, bis er sich wieder bei der Band meldete. Deren Antwort war: „Wir haben auf dich gewartet.“ Für Yotam war die Band auch eine weitere Familie, erzählt sein Bruder.
Er konnte sich selbst befreien
Die Familie erfuhr später, wie es Yotam Haim in der Hamas-Gefangenschaft ergangen war. Er saß lange in einem Tunnel, zusammen mit Alon Shamriz, Samer al-Talalka und einem Arbeiter aus Thailand, Wichian Temthong. Yotam versuchte, Thai zu lernen, um beim Übersetzen zu helfen. Er machte regelmäßig Push-ups und ließ sich Plastikbehälter geben, auf denen er trommelte. Er bot sogar einem seiner Bewacher an, ihm Schlagzeug spielen beizubringen. Wichian Temthong wurde eines Tages mit anderen Thais freigelassen. Die anderen drei wurden in einem Haus zurückgelassen, als die israelische Armee in das Viertel von Gaza einrückte, in dem sie gefangen waren. Sie konnten sich befreien.
Yotam Haim und seine Kollegen waren fünf Tage in der Kampfzone unterwegs. Die Hamas hatte ihnen die Haare geschoren, und sie mussten sich Bärte wachsen lassen, damit sie nicht als Israelis erkennbar waren. Dann trafen sie auf israelische Soldaten. Obwohl sie ihre T-Shirts ausgezogen hatten, ein weißes Tuch hochhielten und auf Hebräisch riefen, wurden sie erschossen. Die Soldaten nahmen an, sie würden in einen Hinterhalt gelockt.
Immer noch seien viele Fragen zu den Umständen des Tods seines Bruders offen, sagt Tuval Haim, offenkundig wurden Fehler gemacht. Die Familie habe sich jedoch entschlossen, nicht mehr nach dem Warum zu fragen, die Wut hinter sich zu lassen. Für sie zählt, dass Yotam sich nicht unterkriegen ließ, dass er anderen helfen konnte und es ihm gelungen ist, sich selbst zu befreien, sagt Tuval Haim. Diese Vorstellung habe ihm geholfen, in dieser Dunkelheit einen Sinn zu finden.
Resilienz durch Musik
Yotam Haim ist zur Inspiration geworden. Der berühmte israelische Sänger Berry Sacharov hat mit Tuvals Band Pulkes ein Lied für ihn aufgenommen. Tuval, der nach dem Tod seines Bruders nie wieder trommeln wollte, hat ein Album eingespielt. Jetzt erfährt er die Musik als stärkste Verbindung zu seinem Bruder. Ein Film wurde über Yotams Leben gedreht. Die Familie hat eine Stiftung ins Leben gerufen, „Beit Yotam“, auf Englisch Yotam’s Life Association. Sie soll sich für Kinder und Jugendliche einsetzen, die ähnliche Probleme wie Yotam haben. Durch Sport, den Kontakt mit Tieren, durch familiäre Unterstützung und Musik soll ihre Resilienz gestärkt werden. Unter dem Motto „Resilienz durch Musik“ steht auch der Abend in Berlin.
Die Haims widersprechen, wenn jemand sagt, Yotam sei „gefallen“. Für sie ist er aufgestanden, hat sein Schicksal in die Hand genommen.
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