Virusvarianten in Deutschland: Wie die Mutanten ticken

Dass sich Viren wie Sars-CoV-2 verändern, liegt in der Sache ihrer genetischen Natur. Doch die Impfstoffe sind bisher auch gegen die Mutanten wirksam.

Zahlreiche Kunststoffröhrchen mit Corona-Abstrichen stehen nach PCR-Tests im Großlabor in einem Regal.

Den Corona-Mutanten auf der Spur – hier in einem Großlabor im rheinland-pfälzischen Ingelheim Foto: Andreas Arnold/dpa

Den Anfang hatte Boris Johnson gemacht. Wenige Tage vor Weihnachten, nachdem die britische Regierung wichtige Gelegenheiten ausgelassen hatte, Coronamaßnahmen zu verschärfen, und die 7-Tage-Inzidenz im Königreich auf mehr als 250 geklettert war, warnte der britische Premier vor der Mutante B.1.1.7. Die sei um mutmaßlich 70 Prozent ansteckender, verbreite sich daher rasant, man müsse nun handeln. Gleich mehrfach und von höchster politischer und institutioneller Instanz ist seither zu vernehmen, dass mehrere aktuelle Mutanten des Coronavirus – auch bekannt als „britische“, „südafrikanische“, „brasilianische“ und „indische“ Variante – das Coronapro­blem verschärfen oder gar ein neues schaffen.

In jedem infizierten Organismus entstehen im Verlauf der Infektion Milliarden Kopien des viralen Erbguts

Die Varianten seien wahlweise infektiöser, krankmachender oder beides zusammen, die Lage daher schwierig. Es müsse mit mehr Ansteckungen gerechnet werden. Fluchtmutationen sollen den neuen Coronaviren außerdem erlauben, der Immunantwort nach einer Infektion und mutmaßlich auch nach einer Impfung zu entkommen. Ein Jahr nach der Ankunft der Pandemie in Deutschland ließ sich Bundeskanzlerin Angela Merkel, als sie vor Ostern Verschärfungen der Coronamaßnahmen ankündigen wollte, sogar zu der Aussage hinreißen, man habe nun im Grunde „eine neue Pandemie“.

Anstelle der steten Lockerungsdebatten, wie zuletzt der fehlplatzierten Schauspieler:innen-Videokampagne #allesdichtemachen, der Passivität der deutschen Bundesregierung und einer weiterhin schmerzlich vermissten europäischen Coronastrategie, scheint daher auch in Deutschland in erster Linie die Coronavariante B.1.1.7 der Grund ­dafür, dass die Sieben-Tage-Inzidenz binnen Wochen von knapp 60 auf fast das Dreifache angestiegen ist.

Und nicht nur in Deutschland und Großbritannien treiben Mutanten ihr Unwesen. In Brasilien und Uruguay gibt es eine massive dritte Welle, dominiert von einer Variante namens P.1. Indien erlebt eine beispiellose Zunahme von Sars-CoV-2- Infektionen, getrieben von B.1.167, auch bekannt als die „Doppelmutante“. Und aus New York, Frankreich und Finnland gibt es bereits Berichte über weitere veränderte Coronaviren. Die Lage wirkt tatsächlich dramatisch.

Nicht die größten Verwandlungskünstler unter den Viren

Aber was genau ist da eigentlich dramatisch? Dass Viren sich stetig verändern und an neue Gegebenheiten anpassen, liegt in der Sache ihrer genetischen Natur. In jedem infizierten Organismus entstehen im Verlauf der Infektion Milliarden Kopien des viralen Erbguts, und viele dieser Kopien sind fehlerhaft. Einzelne Bausteine im genetischen Code des Virus fallen zum Beispiel weg, werden vertauscht oder kommen hinzu. Manchmal verändern sich dadurch auch mehr oder weniger wichtige Details in der Eiweißstruktur des Erregers. Und gelegentlich, obschon selten, bringt diese strukturelle Veränderung eine größere Überlebensfähigkeit mit sich.

Coronaviren sind nun zwar nicht die größten Verwandlungskünstler unter den Viren, ihre Mutationsgeschwindigkeit ist um ein vielfaches geringer als zum Beispiel bei Grippeerregern. Aber je stärker die Verbreitung, desto größer die Flut der viralen Nachkommen – und desto mehr Kopierfehler gibt es auch. Mit der Inzidenz wächst deshalb die Chance, dass unter all den Mutationen eine dabei ist, die Sars-CoV-2 ganz zufällig nützt. Entweder, weil das Virus die Zellen seines Wirts – des Menschen – leichter infizieren oder sich in den Zellen besser vermehren kann. Alternativ, weil es der Körperabwehr des Infizierten zum Teil ausweicht.

Beide Arten von nützlichen Mutationen sind in den Varianten zu finden, die jetzt ihr globales Unwesen treiben. B.1.1.7 zum Beispiel trägt im Vergleich zum anfänglich entdeckten Wuhan-Virus aus China eine kleine Veränderung an der Bindungsstelle zu menschlichen Zellen. Diese Bindungsstelle, das sogenannte Stacheleiweiß, ist zentral dafür, dass das Virus überhaupt in Zellen eindringen und sich vermehren kann. Die Veränderung von B.1.1.7 macht die Variante deshalb nachweislich ansteckender.

Laut Modellrechnungen steigt die Infektiösität um 20 bis 130 Prozent, nach bisherigen Beobachtungen liegt der reale Wert wohl um die 30 bis 40 Prozent. Biomedizinisch lässt sich die erhöhte Ansteckungsgefahr durch eine höhere, womöglich auch länger erhöhte Virenlast der Infizierten erklären. Ob B.1.1.7 auch virulenter ist, also kranker macht, ist trotz vereinzelter Studien zu dieser Frage noch nicht klar zu beantworten.

Abwehrsystem bildet zwei Linien

Was B.1.1.7 noch fehlt, anderen Varianten jedoch innewohnt, ist die Fähigkeit, sich durch Mutationen zumindest einer Immunantwort durch den menschlichen Körper zu entziehen. Das Abwehrsystem des Menschen bildet nach einer Infektion oder Impfung zwei Linien: Die erste besteht aus Antikörpern, die im Fall eines nächsten Kontakts versuchen, eine erneute Ansteckung zu verhindern. Dazu heften sich viele verschiedene spezialisierte Antikörper an viele verschiedene Stellen des Virus.

Wichtig sind jene Antikörper, die verhindern, dass das Virus an Zellen andockt. Sie heißen neutralisierend, weil damit eine Infektion verhindert wird. Einzelne Mutationen in den Varianten können solche Neutralisationen unterwandern, weil die zugehörigen Antikörper nicht mehr binden können. Die sich in Indien derzeit explosiv ausbreitende Variante B.1.617 besitzt zwei solche „escapes“, Fluchtmutationen. Sie schalten allerdings nicht die komplette Antikörperantwort aus, sondern ein oder mehrere von vielen verschiedenen Antikörpern. Und alle derzeit in Europa zugelassenen Impfstoffe lassen sich an diese Fluchtmutationen anpassen.

„Man darf auch nicht vergessen“, erklärt Leif-Erik Sander von der Berliner Charité, „dass es in zweiter Instanz die T-Zell-Antwort des Immunsystems gibt.“ T-Zellen erkennen infizierte Zellen und bekämpfen sie. Bislang gebe es keine Hinweise darauf, dass die Mutanten diese Abwehr schwächen würden, auch alle zugelassenen Impfstoffe sind hier nach wie vor wirksam und verhindern schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle – was entscheidend ist, um der Pandemie ihre Bedrohlichkeit zu nehmen.

Mit B.1.1.7 gibt es dennoch ein offenkundiges Problem. Die erhöhte Infektiösität der Variante treibt den sogenannten R-Wert nach oben. Würden zehn Menschen mit Wuhan-Variante in der aktuellen Lage beispielsweise acht weitere Menschen anstecken, steckte die gleiche Zahl von Infizierten mit B.1.1.7 mehr als zehn andere Personen an. Das neue Sars-CoV-2 benötigt dazu dieselben, eigentlich vermeidbaren Gelegenheiten wie alle Varianten: Kontakte, ungeschützte Gesichter, geschlossene Räume.

Bekommt die Mutante diese Gelegenheiten, schlägt es aber heftiger zu. Anfang Februar war deshalb bereits klar, dass das Bisschen-Lockdown-Business-as-usual die Lage auch hier nicht mehr unter Kontrolle halten würde; B.1.1.7 breitete sich zu diesem Zeitpunkt schon massiv in Deutschland aus. Die Maßnahmen hätten, so sagen Ex­per­t:in­nen, verschärft werden müssen – in einer Situation, in der stattdessen erneut über Lockerungen debattiert wurde und über Wochen nichts Bemerkenswertes passierte.

Kein Herausimpfen aus dritter Welle

Für viele Fachleute, die täglich mit den Folgen und der weiteren Entwicklung der Pandemie zu tun haben, ist das unverständlich. „Ich fand es sehr irritierend“, sagt Florian Klein vom Universitätsklinikum in Köln. Der Virologe versucht mit neuen Testprogrammen zur Öffnung von Kitas derzeit das Beste aus der schwierigen Situation zu machen, aber wie andere Kollegen hat Klein vor der verschärften Dynamik der Virusverbreitung in Deutschland durch B.1.1.7 frühzeitig gewarnt.

Vor dem Hintergrund einer 7-Tage-Inzidenz von bundesweit 57 Infektionen je 100.000 Einwohner sagte er dem deutschen Science Media Center vor zwei Monaten in einem Expertenbeitrag: „Wenn man den aktuellen Stand als Ausgangspunkt annimmt und sich der bisherige Trend fortsetzt, werden wir Ende März deutlich höhere Fallzahlen sehen.“ Dieses sei aber abhängig vom gemeinsamen Verhalten und der wirksamen Unterbrechung von Infektionsketten.

Ende April steigen die Infektionszahlen nun zwar deutlich langsamer als Anfang April, aber dennoch steigen sie. Die aktuelle Inzidenz liegt laut Robert Koch-Institut bundesweit bei knapp 170. „Die Anwesenheit von B.1.1.7 ist nichts, womit man entschuldigen könnte, dass nicht früher gehandelt wurde“, sagt Leif-Erik Sander, Immunologe und Impfstoffexperte von der Berliner Charité. Impfungen, Maßnahmen und Testen betrachtet der Arzt und Forscher weiter als zentral, um die Situation zu bewältigen.

Aus der dritten Welle werde man sich nun aber nicht mehr herausimpfen können – anders als etwa die Briten, die mit massiven Maßnahmen und einer rigorosen Impfkampagne ihre Inzidenz von mehr als 600 im Januar auf jetzt knapp 25 (Stand Ende April) gesenkt haben.

„Und wir sehen auf den Intensivstationen bei uns jetzt sehr klar die neuen Verläufe“, sagt der Mediziner. Es gebe mehr jüngere Patienten, die oft längere Zeit intensiv betreut werden müssten. Die Versorgungssituation durch Medikamente und Therapien habe sich durch mehr als ein Jahr Behandlungserfahrung dabei zwar verbessert, allerdings sei für das Überleben der Patienten stets und überall ein anderer Faktor entscheidend, nämlich die Kapazität an Intensivpersonal und medizinischer Ausstattung.

„Wir sind hier schon längst nicht mehr in der Situation, in der wir noch zu Beginn der Pandemie waren“, sagt Sander. Damals habe man noch mit mehreren Ärzten um einen Covid­patienten gestanden und sich ausgiebig kümmern können. Das sei angesichts der hohen Inzidenz nun nicht mehr der Fall. Mehr als jeder andere Faktor trage die Überlastung der Krankenhäuser zur Sterblichkeit bei.

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