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Verkehrswende fehlen FachkräfteEiner muss ja Ahnung haben

Ohne den Fahrradboom ist die Verkehrswende undenkbar, dafür braucht es Nachwuchs in den Werkstätten. Doch ausgerechnet dort stockt es.

Chris Matzke ist einer von nur 1.500 Fahrrad-Azubis deutschlandweit Foto: Miriam Klingl

Es ist Montag, Ende der letzten Unterrichtsstunde, da schnappt sich Chris Matzke noch kurz eines seiner Lieblingsteile am Fahrrad: die Getriebenabe. Die anderen Auszubildenden sind schon längst nicht mehr konzentriert und räumen die Werkstatt auf. Er löst die Planetenzahnräder von der Nabe, bis nur noch das Sonnenrad in seiner Hand liegt, der Metallstift, um den sich die Zahnräder drehen. Neben ihm steht sein Ausbilder und nickt mit fast väterlichem Stolz bei jedem Teil, das er richtig benennt.

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Chris Matzke lässt sich hier, am Oberstufenzentrum Kraftfahrzeugtechnik in Berlin, seit einem halben Jahr zum Fahrradmonteur ausbilden. Er lernt die Grundlagen von Wartung und Reparatur. Doch er will noch mehr: Sobald sich ihm eine Gelegenheit bietet, will er zur Zweiradmechatronik wechseln.

Matzke ist 29 Jahre alt, werkelt auch privat an Fahrrädern und macht gerne Tricks auf seinem Fixie. Er ist einer dieser fahrradbegeisterten Azubis, nach denen die Fahrradwerkstätten seit Jahren so dringend suchen.

Über 10 Millionen E-Bikes

Denn seit ein paar Jahren gibt es in den Werkstätten immer mehr zu tun. Das liegt unter anderem an den rasant gestiegenen Verkaufszahlen von E-Bikes. 2012 gab es gerade einmal 1,3 Millionen in Deutschland, seit dem vergangenen Jahr sind es mehr als 10 Millionen. Bei E-Bikes dauert die Beratung von Kunden in der Regel länger, weil neben Gangschaltung und Bremse auch Akku und Ladezeiten eine Rolle spielen.

Auch die Wartung von E-Bikes ist oft aufwendiger. Zudem ist die Zahl von Jobrädern aller Art sprunghaft gestiegen, da ist einmal pro Jahr gesetzlich eine Wartung vorgeschrieben, was ebenfalls mehr Arbeit in den Werkstätten bedeutet.

Gerade während der Coronakrise verkauften sich Fahrräder sehr gut. Zwischen 2019 und 2022 stieg der Umsatz der Branche um fast 70 Prozent. Die erste Hälfte des vergangenen Jahres war wegen der Inflation und schlechten Wetters zwar schwierig – doch eines ist offensichtlich: Die Deutschen haben immer mehr Fahrräder, fast 83 Millionen sind es aktuell. Der Trend geht zum Zweit- und Drittrad: ein E-Rad für Ausflüge, ein Stadtrad für kurze Wege und noch ein Lastenrad, um die Kinder von der Kita abzuholen.

Mehr Fahrräder, das klingt nach Hoffnung für die Verkehrswende. Doch ob die gelingt, entscheidet sich nicht nur auf Deutschlands Straßen, sondern auch in den Ausbildungsstätten. Denn irgendjemand muss die vielen Räder ja warten und reparieren.

Und in den Berufsschulen sieht es derzeit eher mau aus. Gerade einmal knapp 1.500 Menschen haben sich im vergangenen Jahr für eine Fahrradausbildung ent­schieden. Dabei gab es nach Schätzungen des Verbunds Service und Fahrrad in der Fahrradbranche im Jahr 2022 etwa 18.000 offene Stellen.

Wenn das Fahrrad als Verkehrsmittel in Deutschland immer beliebter wird, warum entscheiden sich dann nicht viel mehr junge Menschen für eine Fahrradausbildung?

An Autos herumzuschrauben, ist beliebter

Nach Ansicht von Uwe Wöll, Geschäftsführer des Verbunds Service und Fahrrad, lautet eine Antwort: Geld. Dafür lohnt ein Blick auf einen der ärgsten Konkurrenten der Fahrradbranche, die Autoindustrie. Kfz-Mechatronik ist der beliebteste Ausbildungsberuf in Deutschland. Pro Jahr entscheiden sich über 23.500 Menschen dafür. Während der Ausbildung verdienen sie durchschnittlich 875 Euro, bei den Zweiradmechatronikern sind es im Durchschnitt nur 750 Euro.

Auch Matzke fand dieses Argument am Ende seiner Schulzeit in Ludwigsfelde überzeugend. Dort steht ein riesiges Mercedes-Werk, in dem er zunächst als Kfz-Azubi anheuerte. „Es gab gutes Geld dort und Tarifverträge“, sagt er. Zudem hatte er während seiner Schulzeit gerne Computerspiele gezockt, zum Beispiel „Need for Speed“ oder „Gran Turismo“. In diesen Spielen bretterte er mit Autos durch virtuelle Städte, als gehörten sie ihm.

Matzke erzählt das, während er in der Werkstatt von „Ostrad“ im Osten Berlins gerade an einem Fahrrad frickelt. Immer donnerstags und freitags hilft er hier aus. Während er nach Worten sucht, purzeln immer wieder Schrauben zu Boden. Es kostet ihn Überwindung, von seinem Leben zu berichten, von den Rückschlägen und schwierigen Momenten.

Im ersten Lehrjahr seiner Kfz-Ausbildung baute Matzke einen Ottomotor auseinander und wieder zusammen, die Arbeit habe ihm gut gefallen. „Dann hatte ich aber diesen riesigen Streit mit meinem Meister“, sagt er. Worüber genau, darüber möchte er nicht ins Detail gehen. Er will sich die Zukunft nicht verbauen, auf die er sich jetzt als Fahrrad-Azubi freut.

Kein gerader Weg zum Wunschort

Nach dem Streit brach er die Ausbildung ab, es folgten eine Ausbildung zum Koch, eine zum Barkeeper, eine ­eigene Bar, zu viel Alkohol. Nichts klappte auf Dauer. 2021 landete er dann in der Offenen Fahrradwerkstatt im Werkhaus Potsdam.

Dort schraubte er zum ersten Mal an Fahrrädern herum. „Ich war geflasht“, sagt er. Am Anfang hatte er noch Zweifel, doch mit jedem reparierten Rad merkte er, wie viel Spaß ihm die Arbeit machte. „Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, am richtigen Ort zu sein“, sagt Matzke.

Im März 2023 fiel der Entschluss: Das wollte er beruflich machen. Um einen Ausbildungsplatz bei den Zweiradmechatronikern zu ergattern, war er zu spät dran. Deshalb begann er eine schulische Fahrradmonteurs­ausbildung, auf nur zwei Jahre ausgelegt. Sobald sich ein Ausbildungsplatz findet, will er zu den Zweiradmecha­tronikern wechseln. Und es sieht gut aus: Letzte Woche hat ihm sein Chef bei Ostrad signali­siert, dass er ihn gerne ausbilden würde.

Fahrradverrückte wie Matzke zieht die Branche schon immer an. Was aber ist mit denen, die gerne herumschrauben, sich dann aber doch lieber für eine Kfz-Ausbildung entscheiden? Um sie zu überzeugen, sind Faktoren wie Verdienst und Arbeitszeiten entscheidend.

Die Bedeutung des Fahrrads wird unterschätzt

Ein Problem der Fahrradausbildung ist das Prestige. Zweiradmechatroniker ist keine eigenständige Ausbildung, Azubis beginnen gemeinsam mit den Motorradaspirant*innen. Erst im Verlauf der Ausbildung spezialisieren sich die Azubis entweder auf Fahrrad oder Motorrad. Für Uwe Wöll, Geschäftsführer des Verbunds Service und Fahrrad, ein deutliches Zeichen, dass die Bedeutung des Fahrrads unterschätzt wird.

Das zeige sich auch an den Berufsschulen. In einigen Bundesländern gibt es kaum oder gar keine Schulen für Zweiradmechatroniker. In Baden‑Württemberg etwa gibt es eine einzige, in Brandenburg gar keine. Auch in anderen Bundes­ländern sind weite Wege zwischen Ausbildungsbetrieb, Schule und Wohnort typisch.

Ein weiteres Problem der Branche sind die Arbeitszeiten, gerade im Sommer. Wenn das Wetter besser wird, steigen die Verkaufszahlen, die Menschen fahren mehr Fahrrad. Dann gibt es in den Werkstätten oft so viel Arbeit, dass an Urlaub kaum zu denken ist. Allerdings beobachtet Wöll hier seit ein paar Jahren einen Wandel: Urlaub im Sommer sei kein Tabu mehr.

Die Branche zieht weiterhin vor allem männliche Auszubildende an, bei den Zweiradmechatronikern (Fahrrad und Motorrad) sind es über 90 Prozent. Allerdings ist dies kein exklusives Problem der Fahrradbranche, bei den Kfz-Mechatronikern liegt der Anteil im Jahr 2023 sogar bei über 93 Prozent.

Seit ein paar Jahren versuchen Initiativen wie „Women in ­Mobility“ oder „Women Mobilize ­Women“ einen Wandel anzustoßen. Dabei geht es nicht nur darum, mehr Frauen für Ausbildungen im Mobilitätssektor zu begeistern, sondern Stadtplanung und Mobilität insgesamt stärker auf die Bedürfnisse von Frauen auszurichten.

Nur Liebhaber und Fahrradverrückte

Doch bis sich Verdienst, Wertschätzung, Arbeitszeiten und Geschlechterverhältnis so verändert haben, dass die Ausbildungszahlen genauso in die Höhe schießen wie die Verkaufszahlen der Fahrradbranache, dauert es noch ein bisschen. Bis dahin lockt die Ausbildung weiterhin vor allem Liebhaber und Fahrradverrückte an, wie Chris Matzke.

Der hat derzeit in allen Fächern eine Eins. Das erste Zeugnis von der Berufsschule liegt wie zufällig neben der Werkbank. Gerade wechselt er an einem alten Fahrrad den Schlauch, reinigt die Sattelstütze und bringt einen neuen Bremszug an. Noch eine Probefahrt, zu guter Letzt stellt er die Schaltung in einen mittleren Gang. „Dann hat der Kunde beim Losfahren ein gutes Gefühl“, sagt er.

Seine Autokumpels von damals trifft er nur noch ganz selten. Die seien „total motorgeil“ und denken nur über krasse Autos nach. Sie fragen ihn immer, wann er sich denn endlich ein Auto hole. Erst mal nicht, antwortet er dann.

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4 Kommentare

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  • Tjo, es müsste eben einen Transformationsplan geben: Weg von Auto-, Flugzeug- und Kreuzfahrtschiffindustrie samt Arbeitsstellen hin zu ÖPNV, Bahn und Fahrrad. Die Fachkräfte müssten nach Umschulung in die letztgenannten Branchen wechseln. Genug gäbe es. Aktuell sieht es aber so aus, dass die meisten Menschen hierzulanda den Wachstumswahn weiter machen (wollen), auch unter dem Vorzeichen green Capitalism. Es heißt bei den meisten nicht E-Bike statt Auto sondern zusätzlich und zudem zusätzlich zu diversem anderen Konsum wie Flugreisen und Kreuzfahrten. Unhinterfragte Konsumnormalität. Mein Eindruck ist, dass die meisten wenn überhaupt zu spät merken, dass sie sich am Konsum ihrer eigenen Lebensgrundlagen und die ihrer Enkel*innen, Nichten ... beteiligen.

  • "...Planetenzahnräder... Sonnenrad..."



    Hm, anscheinend braucht man heute zur Wartung von Fahrrädern schon "Fachkräfte" [1].



    Als in den 1960-er Jahren meine Schwestern mit ihren Freundinnen auf Radtouren gingen (Übernachtung in Jugendherbergen) und wir Jungens vom CVJM uns mit vollem Gepäck nach Südfrankreich aufmachten (Baumwollzelte usw., Übernachtung dort, wo es uns gefiel), gab's sowas nicht. Da hieß es: Entweder schraubst Du selbst, oder Du bleibst zu Hause. Und die Innereien einer Torpedo Dreigang waren uns kein Geheimnis.



    Wenn es da heute "Fachkräfte" braucht, hat sich entweder die Fahrradtechnik in eine merkwürdige Richtung entwickelt, oder die Radfahrer, oder beide.



    [1] Wenn ich die bezahlen soll, dann kann ich auch gleich beim Auto bleiben.

  • Rad-ikal tut unserem Verkehr und der CO2-Bilanz gut. Verdienstvoll im Moralischen ist der Beruf sicher, und sicher ist er auch.

  • 6G
    691349 (Profil gelöscht)

    Tipps von einem „Kampf-Radler“:

    1. Tägliches Radfahrtraining für die zu meisternden Streckenlängen mit echten Fahrrädern (ohne Motor!!!) und danach vielleicht die Einsicht: Ich mach weiter, auch wenn fast nur noch bekloppte Volvomonster unterwegs sind. Klamotten für jedes Wetter besorgen.



    2. Die Basis ist geschaffen, also weiter mit erlernbarer (beherrschbarer) Technik für anständige Fahrräder (gebraucht – ohne Motor – erstaunlich günstig). Fahrradtechnikbuch besorgen und ggf. Kurse belegen oder Hilfe suchen bei erfahrenen Radfahrern.



    3.Basisvorräte an Ersatzteilen zuhause anlegen und die wichtigsten Werkzeuge besorgen. Bevorzugt im Versandhandel kaufen und das gesparte Geld lieber in gute Fahrradteile investieren, ansonsten werden die Nebenkosten zu hoch. Bei Langeweile immer im Reparaturbuch blättern, Austausch von Ketten, Bremsen und Reifen sind dann kein Problem.



    4. Wenn genug Platz evtl. Zweitrad mit ähnlicher Technik anschaffen.



    5. Bei Panne keine Angst haben und andere Radfahrer um Hilfe bitten; es gibt immer mal wieder eine(n) hilfsbereiten Kampf-Radlerin (ohne Motor!!!).