Verharmlosung von Rechtsextremismus: Wann ist ein Nazi ein Nazi?
Die Mehrheit erkennt einen Nazi erst, wenn er mit Hitlerbärtchen daherkommt. Rechtsradikale nicht beim Wort zu nehmen, ist derzeit die größte Gefahr.
S o sehr sie sich auch anstrengen, die AfD und ihre Fans werden in Deutschland nicht ernst genommen. 70 Prozent der befragten AfD-Wähler:innen sagten in einer Umfrage zu den Wahlen am vergangenen Sonntag, sie entscheiden sich wegen der politischen Forderungen der Partei für die AfD. Genau diese Entscheidung trauen aber 70 Prozent aller Befragten in der gleichen Umfrage – also auch Wähler:innen anderer Parteien – den AfD-Wähler:innen nicht zu.
Diese 70 Prozent glauben, Menschen wählen die AfD aus Protest statt aus Überzeugung. Rechtsextreme können der Mehrheit in diesem Land ins Gesicht schreien, dass sie es ernst meinen, und trotzdem ignoriert diese Mehrheit es oder redet es sich bequem.
Wer noch zweifelt, ob die AfD wirklich, wirklich rechtsextrem ist, kann sich die Bücher und Social-Media-Kacheln mit Aussagen ihrer Politiker:innen ansehen, die Studie zum rechtsradikalen Profil ihrer Wählerschaft von Arzheimer und Berning 2019, die erste seitenlange Untersuchung der AfD in dieser Zeitung vom 23. August 2014.
Selbst der Verfassungsschutz hat das Faschistoide der AfD inzwischen festgestellt. Oder diese Umfrage vom Wahlsonntag: 82 Prozent der befragten AfD-Wähler:innen sagen über ihre Partei, es sei ihnen „egal, dass sie in Teilen als rechtsextrem gilt, solange sie die richtigen Themen anspricht“.
Solidarität statt die AfD kopieren
Würden die anderen Parteien und ihre Wähler:innen den Rechtsextremismus der AfD ernst nehmen, dann hätte der Umgang mit dieser Partei und ihrem Umfeld eine ganz andere Dringlichkeit. Zumindest die sich als links verstehenden Parteien und ihre Wähler:innen würden die rassistische Erzählung und Praxis einer Welt, in der „die Deutschen“ ihren Platz an der Sonne mit allen Mitteln verteidigen, nicht von der AfD kopieren. Sondern eine eigene Erzählung und Praxis der Solidarität setzen.
Natürlich ist das schwierig, weil die Erzählungen der AfD bei Wahlen erfolgreich sind und ohne komplexe Erklärungen auskommen. Es ist aber nicht so, als gäbe es keine Modelle, wie sich diese Gesellschaft anders gestalten ließe.
Von Marina Weisband, die mit ihrem Aula-Projekt Schulen demokratischer organisieren möchte, über eine empathischere politische Bildung bis hin zu Gruppen, die Menschen in der Lausitz dabei unterstützen, sich künstlerisch auszudrücken. Es existieren hunderte Ansätze. Was es nicht gibt – außer bei autoritären Linken –, ist das eine Großmodell, das alle Probleme in Luft auflöst.
Solidarische Praxis hieße, Ressourcen wie Zeit und Geld zu teilen, um gemeinsam Einfluss zu nehmen – gerade auch in Dörfern und Kleinstädten. Prodemokratische Menschen, die sich dort mit Rechtsextremen anlegen, riskieren ihre Gesundheit. Sie brauchen Geld, um ihre Arbeit fortzusetzen.
Erstaunen über den netten Dorfnazi
Dieses Geld sollte eigentlich mit dem Demokratiefördergesetz fließen, aber die FDP blockiert das. Linke und linksliberale Wähler:innen lieben es, diese Partei zu verachten. Sinnvoller wäre es jedoch, Abgeordneten von SPD, Grünen und FDP Druck zu machen. Schreiben, fragen, warum das Gesetz nicht beschlossen wurde. Noch mal nachfragen.
Wer auf den Staat nicht warten will, schreibt eine Dauerüberweisung an den Verein Polylux oder den Dachverband der Migrant*innenorganisationen in Ostdeutschland. Die verteilen Geld an Gruppen, die es brauchen.
Linke Gruppen aus Ost und West, Stadt und Land, Migrantifas und Weißbrote wuseln zu oft nebeneinander her. Über so harte Konfliktlinien wie bei der Ukraine und Gaza lassen sich tatsächlich schwer Möglichkeiten der Zusammenarbeit finden. Doch über die Petitesse, dass man sich gegenseitig uncool findet, sollte man hinwegsehen können.
Weiße Menschen, die aufs Land ziehen, sollten nicht nur erstaunt feststellen, dass der Handwerker von der AfD so nett zu ihnen ist wie der Dorfnazi im Roman von Juli Zeh. Sondern nachfragen, zu wem der Handwerker nicht nett ist. Und sich entsprechend organisieren. Sich organisieren, nicht allein bleiben und andere nicht allein lassen, ist ohnehin eine gute Idee.
Das ständige Gerede von Abschiebungen
Wenn Politiker:innen von Union bis Grüne das Rassistische und Unsolidarische an der AfD als Gefahr ernst nehmen wollen, sollten sie den Boden, auf dem diese Partei geht, nicht mit ihren Zungen wischen. Das Gerede von Abschiebungen, Abschiebungen, Abschiebungen – geht da was anderes als AfD-Kopie?
2015 war es, da bezweifelten Menschen bis ins linksliberale Spektrum hinein, dass das Pegida-Gesicht Lutz Bachmann ein rechtsextremer Rassist sei. Dann tauchte ein Foto von ihm mit Hitlerbärtchen auf. Aufschrei, sogar bei Pegida. Müssen sich Nazis in Deutschland als Nazis verkleiden, um als Nazis ernst genommen zu werden?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Fortschrittsinfluencer über Zuversicht
„Es setzt sich durch, wer die bessere Geschichte hat“