Verfolgung von Naziverbrechen: NS-Prozesse vor dem Ende
Die Verurteilung der KZ-Sekretärin Furchner könnte der letzte Fall seiner Art sein. Warum die Justiz zu spät gegen Tausende mutmaßliche Täter vorging.
13 Jahre später scheint die juristische Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechern abgeschlossen zu sein. Thomas Will, Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, mag nicht ausschließen, dass es vielleicht doch noch zu einem Prozess kommen könnte. Doch er gibt zu bedenken, dass die wenigen Personen, gegen die noch ermittelt wird, ein Alter zwischen 99 und 101 Jahren erreicht haben. Erst im Juni ließ das Landgericht Hanau das Verfahren gegen einen 99-Jährigen fallen. Dem ehemaligen SS-Mann wurde Verhandlungsunfähigkeit attestiert.
Mit dem Demjanjuk-Verfahren begann 2009 die Spätphase der bundesdeutschen NS-Prozesse. Zuvor waren jährlich immer weniger Nazi-Täter von der Justiz abgeurteilt worden. Dies geschah vor allem deshalb, weil der Bundesgerichtshof 1969 verlangte, dass für eine Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord in einem KZ ein individueller Mordvorwurf notwendig sei. Tatsächlich sahen sich nur die allerwenigsten Überlebenden in der Lage, einen solchen Mörder zu identifizieren, und die mutmaßlichen Täter leugneten jede Schuld. So kamen wohl Tausende von Nazis davon.
Thomas Walther, der sich später als Vertreter von Überlebenden als Nebenkläger in diversen Verfahren einen Namen machte, zweifelte genau diese Logik an – und gewann. Demjanjuk wurde verurteilt, obwohl es an einem individuellen Mordvorwurf mangelte. Das Gericht entschied vielmehr, dass allein die Tatsache seiner Tätigkeit als Wachmann in einem Lager, das einzig zum Massenmord an Juden diente, als Grund für eine Verurteilung wegen Beihilfe zu Mord ausreichte. Nur Mordvorwürfe konnten überhaupt noch geahndet werden, weil alle anderen Straftaten verjährt waren und sind.
Lawine der Ermittlungen
Das Demjanjuk-Urteil löste eine kleine Lawine neuer Vorermittlungen gegen mutmaßliche NS-Straftäter aus. Alleine der damalige Leiter der Zentralen Stelle, Kurt Schrimm, brachte Recherchen zu 49 früheren Auschwitz-Wachmännern in Gang. Dazu verglichen die Nazi-Ermittler Listen von KZ-Bediensteten mit den Daten von noch lebenden Sozialversicherten. Von den 49 blieben schließlich 30 Verdächtige übrig, deren Daten an die zuständigen Staatsanwaltschaften in der ganzen Bundesrepublik gingen.
Doch nur zwei von ihnen wurden auch verurteilt – Oskar Gröning 2015 in Lüneburg zu vier Jahren und Reinhold Hanning 2016 in Detmold zu fünf Jahren Haft. Im Falles Grönings segnete der Bundesgerichtshof die Praxis der Verurteilung ohne einen konkreten Mordvorwurf ab. Sie gewann damit Rechtskraft. Insgesamt kam es bis 2022 zu sechs Verurteilungen. Die anderen Täter hatten in den KZ Stutthof und Sachsenhausen Dienst getan. Der letzte Prozess endete am 20. Dezember 2022 vor dem Landgericht Itzehoe. Irmgard Furchner erhielt eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren zur Bewährung nach dem Jugendstrafrecht.
Dutzende weitere Verfahren blieben dagegen schon in ihren Anfängen stecken. Jetzt rächte sich, dass die Justiz die Wachmänner und andere Täter so lange milde behandelt hatte. Häufig waren Beschuldigte kürzlich verstorben, noch häufiger stellten Gutachter die Verhandlungsunfähigkeit der früher so schneidigen SS-Männer fest. Selbst laufende Verfahren mussten eingestellt werden, so im Falle von Johann R. im westfälischen Münster 2019. Zur Farce geriet die juristische Auseinandersetzung in Neubrandenburg, wo ein unwilliger Richter den Prozess verschleppte und einen Vertreter der Nebenklage beschimpfte, bis der Mann abgelöst werden musste. Der Angeklagte, ein Auschwitz-Sanitäter, erkrankte zwischenzeitlich an Demenz, womit das Verfahren beendet war.
Rechtsanwalt Thomas Walther ist heute 81 Jahre alt. Über die juristische Auseinandersetzung mit den NS-Tätern urteilt er: „Das ist alles kein Ruhmesblatt für die deutsche Justiz.“
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