Netflix-Doku über NS-Täter: Rädchen in der Maschinerie

„The Accountant of Auschwitz“ erzählt vom Prozess gegen den SS-Mann Oskar Gröning. Deutsche Sender sind bisher nicht auf diese Idee gekommen.

Oskar Gröning, weißes Haar, Brille, blickt über die Schulter

Hat nichts beschönigt: Oskar Gröning beim Prozess in Lüneburg Foto: dpa

BREMEN taz | Netflix kann nicht nur Serie: Bei dem Streamingdienst finden sich auch mehr und mehr gut gemachte Dokumentationen. So ist dort etwa seit ein paar Tagen die Eigenproduktion „Cambridge Analyticas großer Hack“ von Jehane Noujaim und Karim Amer zu sehen – über jene Firma, die im großen Stil Facebook-Nutzerdaten ausforschte, mit deren Hilfe dann Donald Trump, heute US-Präsident, seine Wahlkampfstrategien entwickelte.

Mit „The Accountant of Auschwitz“ haben die kalifornischen Programmmacher auch eine Dokumentation im Angebot, die eigentlich ins öffentlich-rechtliche Fernsehen gehört hätte. Im Jahr 2015 fand im niedersächsischen Lüneburg ein Gerichtsprozess statt: Dem 94-jährigen Oskar Gröning, von 1942 bis 1944 im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz tätig, wurde Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen zur Last gelegt. Er wurde auch verurteilt, verstarb dann aber im März 2018, ohne die vierjährige Haftstrafe noch angetreten zu haben.

Über den Prozess berichteten zahlreiche Medien zwar tagesaktuell. Eine tiefer gehende Dokumentation aber, die den Fall des früheren SS-Mannes historisch einordnen hätte können, gab damals keine Anstalt in Auftrag. Ob heutige Redakteur*innen finden, es gebe schon genug Dokumentationen über den Holocaust? Auch der Emder Filmemacher Hans-Erich Viet musste ja „Der letzte Jolly Boy“, sein außergewöhnliches Porträt des Holocaustüberlebenden Leon Schwarzbaum, so gut wie ohne Fernsehgelder finanzieren – nicht mal gezeigt hat den Film irgendein Sender.

So wie die Kanadier Matthew Shoychet (Regie) und Ricky Gurwitz (Drehbuch) indes hätte sich wohl kaum ein*e deutsche*r Filmemacher*in des Themas annehmen können: Es ist ein Unterschied, ob es Deutsche sind, die Auschwitz-Überlebende interviewen. Auch wenn der Filmtitel einen Fokus auf Gröning nahelegt – als „Buchhalter von Auschwitz“ bezeichnete ihn im Jahr 2005 der Spiegel –, sind die Filmemacher an ihm überraschend wenig interessiert.

Holocaustleugnung vor laufender Kamera

Statt mit dem Angeklagten haben sie ausführlich mit jenen Überlebenden gesprochen, die als Zeugen in Lüneburg auftraten. Manche haben sie schon vorher getroffen, in Israel etwa. Zu diesen Menschen kehrt der Film immer wieder zurück, und es sind gerade diese Sequenzen, die ihn sehenswert machen.

Auch in Lüneburg werden Interviews geführt, etwa mit dem Journalisten Kai Feldhaus, der für Bild über den Prozess berichtete; einige Lüneburger*innen äußern ihre Sicht auf das Gerichtsverfahren; Rainer Höß erzählt, wie man damit lebt, der Enkel des Lagerkommandanten Rudolf Höß zu sein; zwei Lüneburger Antifaschist*innenschildern, wie sie gegen eigens angereiste Holocaustleugner*innen agierten.

Vor laufender Kamera sagt dann etwa die wiederholt verurteilte Ursula Haverbeck, in Auschwitz sei niemand vergast worden; ein Polizeibeamter unterbricht sie, droht mit einem weiteren Strafverfahren.

Oskar Gröning selbst ist ganz eindeutig keiner von denen, die den Holocaust leugnen. 2005 etwa schilderte er der BBC, was genau er in Auschwitz gemacht hatte: Mit den Tötungen habe er nichts zu tun gehabt, aber als kleines Rädchen in der Vernichtungsmaschinerie seine Aufgabe erfüllt. Die Filmemacher stellen irgendwann die Frage, warum ausgerechnet ihm, dem „kleinen Rädchen“, der Prozess gemacht wurde.

Richter waren früher selber Nazis

Um eine Antwort da­rauf zu finden, skizzieren Shoychet und Gurwitz die Versäumnisse der bundesdeutschen Justiz, wenn es um die Nazi- und Kriegsverbrechen geht. Sie lassen Benjamin Ferencz auftreten, heute selbst über 90, der 1947 einer der Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen war. Er sagt, dass all diese Verfahren gegen Nazis nur eine symbolische Wirkung haben konnten; dass in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit die Mehrzahl der Richter und Staatsanwälte ehemalige Nazis waren, die ihresgleichen schützten.

Dies änderte sich erst mit John Demjanjuk: 2011 wurde der einstige Aufseher im Vernichtungslager Sobibor in Deutschland wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt – der Film zeigt ihn als einen sehr viel eindrucksvolleren Täter als Gröning. Beim Material konnten die Filmemacher aus dem Vollen schöpfen. Sie montierten etwa Demjanjuk, wie er bei seiner Verhaftung schwer krank zu sein behauptet, mit Aufnahmen des FBI: Wenige Tage zuvor war er, erkennbar gesund, in einem Supermarkt gefilmt worden.

Gröning beschönigte nichts, zeigte vor Gericht Reue, wirkte eher selbst wie ein Opfer; eines der wohl bekanntesten Bilder aus Lüneburg dürfte der Moment sein, in dem die Auschwitzüberlebende Eva Kor ihm vor laufenden Kameras verzieh.

Vielleicht noch mehr als andere Prozesse wegen NS-Verbrechen war auch dieser symbolisch: Nicht auf das Urteil kam es an, sondern darauf, dass über Auschwitz überhaupt noch einmal verhandelt wurde. Auch der Film macht klar, was droht, wenn diese Schuld vergessen wird, wenn Verantwortung und Täter*innenschaft in Frage stehen. Beendet haben Shoychet und Gurwitz ihn mit Bildern von Neonazi-Aufmärschen – in Polen, Großbritannien, Griechenland und den USA.

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