Verdi-Leiter über Arbeit von Lkw-Fahrern: „Bald wie in Großbritannien“
Wenn die Bezahlung für Lkw-Fahrer nicht besser wird, drohen auch in der EU bald Lieferengpässe, sagt Stefan Thyroke von der Gewerkschaft Verdi.
taz: Herr Thyroke, in Großbritannien ist es zu großen Engpässen bei Sprit und Warenlieferungen gekommen, weil Lkw-Fahrer fehlen. Der Bundesverband Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung warnt davor, dass in zwei bis drei Jahren auch in Deutschland ein „Versorgungskollaps“ droht. Ist die Lage wirklich so dramatisch?
Stefan Thyroke: Die Lage wird hierzulande ad hoc nicht so dramatisch wie in Großbritannien. Aber wenn wir nicht gegensteuern, wird es bei uns früher oder später auch so kommen. Wir haben schon seit vielen Jahren einen Mangel an Lkw-Fahrern, die in Deutschland leben. Dieser Mangel wird durch Lkw-Fahrer aus anderen EU-Staaten und mittlerweile auch von außerhalb der EU ausgeglichen. Trotzdem wird die Lücke jährlich um 15.000 fehlende Fahrer größer; bereits jetzt fehlen mehr als 80.000. Ohne eine nachhaltig bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen für die Fahrer wird sich diese Lücke nicht schließen lassen.
Großbritannien kann den Mangel nicht mehr mit Fahrern aus anderen EU-Ländern ausgleichen. Aber Deutschland schon, oder?
Nein, das ist jetzt schon nicht mehr möglich. Auch unsere Kollegen von den osteuropäischen Gewerkschaften sagen, dass dort Fahrer fehlen. Mittlerweile bedient sich der EU-Arbeitsmarkt in immer ferneren Ländern: Viele Fahrer kommen aus osteuropäischen Nicht-EU-Ländern wie der Ukraine und Weißrussland oder aus asiatischen Staaten wie Kasachstan und den Philippinen.
Ist das legal?
Nicht immer. Zum Beispiel stellt das EU-Mitgliedsland Litauen Fahrerlaubnisse und Aufenthaltsgenehmigungen aus für Fahrer aus Asien, die keinen einzigen Arbeitstag in Litauen verbringen, sondern gleich nach Deutschland geschickt werden. Sie sind dann hier zum litauischen Mindestlohn von rund 600 Euro im Monat unterwegs. Das verstößt gegen das EU-Recht.
Schreiten die Behörden nicht ein?
Wir haben Kontrollbehörden, aber die Kontrolldichte ist leider sehr gering. Sie liegt bei unter einem Prozent.
Jahrgang 1975, ist Bundesfachgruppenleiter Logistik und Speditionen der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi.
Warum fehlen Lkw-Fahrer?
Früher war die Bundeswehr eine günstige Rekrutierungsquelle, weil Wehrpflichtige dort kostenfrei einen Lkw-Führerschein machen konnten. Nachdem es die Wehrpflicht nicht mehr gibt, ist sie weitgehend versiegt. Der Lkw-Führerschein kostet rund 10.000 Euro. Das müssen Fahrer in der Regel selber zahlen, nur sehr wenige Unternehmen übernehmen das. Ansonsten mangelt es an vielem, angefangen bei einer ordentlichen Vergütung bis zur Frage: Wie oft bin ich zu Hause? Früher kam die Ware vom Hersteller in ein Zwischenlager, dann wurde sie zum Endkunden gebracht. Mittlerweile wird die Ware direkt zum Endkunden gefahren. Alles ist auf die Minute geplant. Das verursacht einen großen Stress, die Anforderungen werden immer größer, die Aufenthalte am Wohnort weniger. Gerade osteuropäische Fahrer sind häufig nur zweimal im Jahr zu Hause. Das steigert natürlich nicht die Attraktivität des Berufs.
Ist Lkw-Fahren noch immer ein typischer Männerberuf?
Ja. Wir haben einen Frauenanteil von vier Prozent unter den Berufskraftfahrern, da sind die Busfahrerinnen mitgezählt. Bei den Lkw-Fahrern ist der Frauenanteil noch geringer.
Was verdienen Lkw-Fahrer?
Das ist sehr unterschiedlich. Im Schnitt sind es in Deutschland 2.300 Euro brutto. Dabei gibt es große regionale Unterschiede: Am meisten verdienen Fahrer in Bayern und Baden-Württemberg, am wenigsten in Sachsen-Anhalt und Thüringen. Die Tarifbindung ist nicht sehr hoch. Die Speditionsbranche ist kleinteilig. Wir haben Tausende Firmen mit ganz wenigen Beschäftigten, die keine Tarifbindung haben, die oft weniger verdienen und selten mehr. Fahrer aus anderen EU-Staaten bekommen in der Regel den Mindestlohn ihres Herkunftslandes, der im untersten Fall, Bulgarien, bei 300 Euro liegt. Die Anzahl der Tage, an denen das erlaubt ist, ist durch EU-Gesetzgebung stark begrenzt. Tatsächlich fahren die Kolleg*innen aus anderen EU-Staaten täglich auf deutschen Straßen. Alle wissen, dass die Gefahr einer Kontrolle gering ist. Die Strafe ist niedrig, sodass die Spedition sagen kann: Wenn ich schon 100.000 Euro zusätzlich aufgrund zu geringer Personalkosten verdient habe, kann ich auch mal 5.000 Euro Ordnungsgeld zahlen.
Wäre ein europäischer Mindestlohn sinnvoll?
Es wäre ein Variante, die Mindestlöhne anzugleichen. Helfen würde auch, wenn die Entsenderichtlinie der EU für alle gilt. Sie sieht vor, dass Beschäftigte den Lohn erhalten müssen, der in dem Land gilt, in dem sie arbeiten. Bei Lkw-Fahrern und anderen mobilen Beschäftigten wie Zug- und Busfahrern gilt eine Ausnahme. Wenn die EU-Entsenderichtlinie auch für sie gelten würde, müsste ein polnischer Fahrer, der 300 Tage im Jahr in Deutschland fährt, den deutschen Mindestlohn bekommen.
Lkw stehen oft im Stau. Sind Staus für Sie als Gewerkschafter ein Thema?
Für uns ist es ein Thema, was die Arbeitsbelastung angeht. Natürlich wäre es auch aus ökologischen Gründen wünschenswert, mehr Verkehr auf die Schiene zu holen. Es gibt ja den Begriff des kombinierten Verkehrs in der Logistik. Das heißt, die Kombination aus Schiene und Straße, wo man für die letzten Kilometer vom Gleis auf die Straße umlädt. Das wäre insgesamt besser, weil die Straßen entlastet würden. Es wäre auch besser für Lkw-Fahrer, weil sie abends zu Hause wären, wenn sie nur im Umfeld von 100 oder 200 Kilometern fahren müssten.
Wird der Wettbewerbsvorteil der Straße gegenüber der Schiene auf dem Rücken der Lkw-Fahrer erzielt?
Ja, auf jeden Fall. Den Zeit- und damit den Kostenvorteil, den Unternehmen durch den Lkw haben, weiten sie aus, indem sie die Personalkosten klein halten. Das geht ganz klar auf Kosten der Fahrer. Letztlich ist es auch eine gesellschaftliche Frage: Die Menschen, die auf den Autobahnen und Landstraßen für Unternehmen und Verbraucher tagein tagaus Güter transportieren, halten den Laden für uns alle am Laufen – statt Ausbeutung und Geringschätzung zu erfahren, haben sie anständige Löhne und Respekt verdient.
Scheuen junge Leute den Beruf auch, weil in einigen Jahrzehnten Lkw ohnehin autonom und ohne Fahrer fahren?
Ich glaube nicht, dass das eine Rolle spielt. Technisch sind autonom fahrende Lkw schon heute möglich, aber sie sind störanfällig. Auch in 30 Jahren wird es noch Lkw mit Fahrern geben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind