Vater über den Kriegstod seines Sohnes: „Das Unverständnis bleibt“
Lutz Hoffmanns Sohn Jakob Riemer starb im Kampf für die kurdische HPG. Ein Gespräch über Politik, Ängste, Trauer und Erziehung.
taz: Herr Hoffmann, wir haben uns an einem Graffito im Hamburger Schanzenviertel getroffen, das Ihren Sohn Jakob zeigt. Was bedeutet Ihnen dieser Ort?
Lutz Hoffmann: Freund*innen von Jakob haben es an seinem einjährigen Todestag gemalt. Für mich ist es meine flüchtige Grabstätte. Ich habe richtiggehend Angst vor dem Tag, an dem das Graffito mal weg ist. Beim Gedanken daran zittere ich.
Gibt es denn in den kurdischen Bergen ein echtes Grab?
Wir wissen aus Erzählungen, dass er bei einem türkischen Luftangriff mit fünf Mitstreiter*innen gestorben ist. Und die Leichname sind unter einem nicht benannten Berg verscharrt worden. Solange wir diesen Ort nicht kennen, trauere ich hier um ihn.
Im Netz kursiert ein Video, das Jakob unter anderem als kleinen Jungen im St.-Pauli-Pulli zeigt und dann, wie er in militärischer Uniform vor einem Geschütz in perfektem Kurdisch über den Freiheitskampf doziert. Bringen Sie diese beiden Bilder zusammen?
Absolut. Das ist eine Person für mich. Ich erkenne ihn auch im zweiten Bild noch wieder. Er war sprachbegabt. Und fremde Kulturen haben ihn schon immer fasziniert. Das Kriegerische gefällt mir natürlich nicht so daran.
Sie sind Pazifist?
57, ist Arborist in Hamburg. Sein Sohn Jakob Riemer schloss sich 2014 der PKK im iranisch-irakischen Grenzgebiet an und starb dort 2018 bei einem türkischen Luftangriff, im Alter von 23 Jahren.
Ja. Ich bin mit meinem Bruder bei meinem Vater aufgewachsen. Der ist mit 17 in den Zweiten Weltkrieg. Später hat er uns Kindern permanent von Kriegserlebnissen erzählt. Wir waren gewissermaßen Psychotherapeuten für unseren kriegstraumatisierten Vater. Später war ich Kriegsdienstverweigerer.
Also keine Verleugnung seitens Ihres Vaters?
Er hatte Züge von Verleugnung drin, gerade bei der Schuldfrage. Im Vordergrund standen aber immer einzelne Geschichten. Etwa wie irgendwelche Panzer im Schnee über seine Mitflüchtenden gefahren sind. Oder wie die Schwester sein Zimmer schon geräumt hatte, als er plötzlich wieder vor der Tür stand. Als dann in den Siebzigern Holocaust im Fernsehen lief, konnte er das alles rückblickend kaum ertragen, dass Deutschland diese Verbrechen begangen haben sollte. Das war unser großer Konflikt, als ich 17 war. Eine verspätete 68er-Geschichte gewissermaßen.
Und dann sind Sie politisch geworden?
Anfangs eher indirekt. Ich habe eine lange Zeit ein Aussteigerleben geführt, habe in einer Höhle gelebt auf den kanarischen Inseln, war in Asien unterwegs.
Wie lange haben Sie so gelebt?
Eigentlich von 21 bis Anfang 30, als Jakob geboren wurde. Da hat sich mein Leben dann komplett gedreht. Jakobs Mutter wiederum ist in Tansania aufgewachsen, ihr Vater war dort beruflich tätig. In all unseren Wohnungen hingen immer Fotos von Massais, Originalschmuck aus Afrika. Und wenn ihre Schwestern zu Besuch waren, wurde immer ein Gemisch aus Englisch, Deutsch und Kisuaheli gesprochen.
Daher Jakobs Interesse an fremden Kulturen also.
Bestimmt. Mit elf berichtete Jakob mir dann immer ganz stolz, dass er in kurdische und türkische Kulturvereine einfach reingelaufen ist. „Stell dir vor Papa, wir waren vier Stunden in dem türkischen Kulturcafé, und die waren alle so nett zu uns und haben uns Kartenspiele beigebracht!“
Jakobs Interesse für Politik, kam das auch von Ihnen?
Wir waren zwar immer im Viertel verwurzelt, ich hatte Kontakte in die Hafenstraße, auch über die Kinder, und in die Hausbesetzerszene in Berlin. Aber bei mir stand ehrlich gesagt lange immer das Weltflüchtige im Vordergrund. Philosophieren ja, aber keine explizite politische Agenda. Später erst bin ich mit Jakob zu Gorleben-Demos. Oder bei der Initiative „Moorburg-Trasse stoppen“ – da habe ich viel geholfen und Jakob war dabei.
Wo kamen die ersten Impulse für Jakobs Politisierung dann her?
Die Sozialisation im Viertel spielte da eine große Rolle. Ich erinnere mich, als wir ins Schanzenviertel gezogen sind, da war Jakob acht Jahre alt. Da brannten am ersten Mai unter dem Haus die Barrikaden. Und dann fragte er mich natürlich, wer die Guten und wer die Bösen sind. Die Antwort dort und bei ähnlichen Fragen war immer, dass das so einfach nicht zu entscheiden ist. Und dass es nie so leicht ist, so etwas in Gut und Böse einzuteilen. Als Zwölfjähriger hat er dann die Skateboardbahn hier hinter der Roten Flora mit aufgebaut und war schwer begeistert von den Älteren.
Wann fing sein politisches Engagement denn an?
Ab 16 hat er sich dann politischen Jugendgruppen angeschlossen, die sich aus seiner Schule rekrutiert haben. Am Gymnasium Allee war er auch Schulsprecher, hatte mit seiner Freundin eine Schülerdemo für ein Kind organisiert, das abgeschoben werden sollte. Da kamen 2.000 Leute. Und die beiden waren mächtig stolz natürlich. Als er dann groß genug war, hat er sich auch den 1.-Mai-Protesten angeschlossen.
Und darüber haben Sie miteinander gesprochen?
Ja. Schnell war dann Thema, dass es ihm nicht ausreicht, nur punktuell zu protestieren und trotzdem sein Leben weiterzuführen in Konsum, sich zu betrinken oder zu bekiffen, wie es in einem Teil seines Umfelds wohl war. Weitermachen wie bisher war ihm nicht konsequent genug. Und er beschäftigte sich zu der Zeit intensiv mit globalen Ungerechtigkeiten, die er schier nicht ertragen konnte. Dann gab es da noch zwei besondere Momente, nachdem er in Kontakt mit einer deutsch-kurdischen Jugendgruppe gekommen war.
Nämlich?
Er war mit der Gruppe beim Prozess gegen den PKK-Aktivisten Ali Ihsan Kitay, der wegen Spendengeldern vor Gericht stand. Mit Tränen in den Augen kam er nach Hause, wütend über das paternalistische Staatsverständnis des Richters und der Staatsanwaltschaft, dass der türkische Staat sehr wohl Gewalt ausüben dürfe, der kurdische Widerstand gegen die eigene Vernichtung aber nicht in Ordnung sei. Dass die Justiz hier der Politik offenbar folgte. Dass es nicht weit her sei mit der Gewaltenteilung. Das war etwa ein Jahr vor seinem Verschwinden.
Und der zweite Moment?
Einmal begegneten wir uns im Flur. Und im Vorbeigehen sagte er mir, er würde jetzt am liebsten nach Kurdistan in die Berge. Das war zwei Monate, bevor er das dann in die Tat umgesetzt hat. Und wie benommen habe ich ihm da sogar zugestimmt und genickt: „Jakob, das würde ich am liebsten jetzt auch tun.“ Im Rückblick habe ich ihm also dort vielleicht die Absolution erteilt für seinen Plan. Auch wenn das so natürlich nicht gemeint war. Aus seinen Augen sprach einfach so eine jugendliche Sehnsucht nach einem sinnhaften, erfüllten Leben, die ich in dem Moment gut nachvollziehen konnte.
Als er ging, hat er Ihnen vermutlich nicht Bescheid gesagt?
Nein, er war einfach von einem auf den anderen Tag weg. Das war am 2. Januar 2014. Fünf Tage später bekam ich dann einen Anruf von ihm: Sein Pass laufe ja in zwei Jahren ab, dann komme er schon wieder. Das war allerdings vor dem Putsch in der Türkei. Er ging in die Kandil-Berge im irakisch-iranischen Grenzgebiet, um eine sozialistische, basisdemokratische Gesellschaftsform kennenzulernen. Genau wie er damals durch die Tür der türkischen Kulturcafés gegangen war, wollte er jetzt dorthin. Nicht, um Gewalt auszuüben, da bin ich mir ganz sicher. Damals gab es gerade Friedensverhandlungen, es war alles auf einem guten Weg, dass die Kurdenfrage gelöst würde. Und dann kam der Putsch und alles drehte sich plötzlich um.
Was passierte dann?
Neben ihm starb bei einem türkischen Luftangriff sein bester Freund, er selbst war taub für lange Zeit. Und aus diesem Kriegstrauma hat ihm niemand herausgeholfen. Kurdische Genoss*innen haben ihm offenbar empfohlen, er solle sich aus dem Gebiet zurückziehen. Aber er wollte das nicht, sondern Rache und kämpfen.
Das hat er Ihnen berichtet?
Nein, das meiste habe ich im Nachhinein erfahren. Von ihm kam alle zwei Jahre mal ein Brief. Dass sie alle Nahrungsmittel selbst anbauen und er wüsste jetzt, wie das geht, dass er viel liest, dass die Adler über ihm kreisen und er auf den Bergen hockt, dass das ein pures Naturerlebnis ist, sieben Meter Schnee. Ein wenig ähnelte die Geschichte dem Buch von Jon Krakauer „Into the Wild“. Das war aber vor seinem Kriegstrauma. Dann wurden die Briefe ideologischer, auch befremdlicher. Eigentlich hatten wir ihn ja zu differenziertem Denken erzogen, hier spürte man dann auch die ideologische Engführung der PKK durch.
Und hat er seinen Racheplan dann umgesetzt?
Ja, vermutlich. Aus Erzählungen haben wir zumindest erfahren, dass er mit dem Gewehr seines gefallenen Freundes in die umkämpften Gebiete zog. Dort war er auch in Kampfhandlungen mit dem türkischen Militär verwickelt. Sicherlich auch mit Toten auf beiden Seiten. Was aus meiner Sicht beides zu beklagen wäre.
Werfen Sie ihm als Pazifist nicht vor, sich derart radikalisiert zu haben?
Dieses totale Bei-ihm-Sein, das kippt auf jeden Fall an diesem Punkt, in kriegerische Situationen zu gehen. Da verschwimmt meine Wahrnehmung allerdings, meine moralische Einordnung. Da ich ja in meiner Käseglocke hier in Deutschland bin und mir das nur bedingt vorstellen kann. Wenn mir ein Krieg aufgezwungen würde, wenn meine Gruppe angegriffen würde, wer weiß, was ich dann tun würde? Welche archaischen Muster da greifen. Er ist jedenfalls kein Held für mich. Was ich ihm als Vater vorwerfe, ist, dass er nicht genug auf sich aufgepasst hat. Dass ihm sein Leben offenbar egal geworden war. In dem Video etwa sagt er, er werde sich tausend türkischen Panzern zur Not allein entgegenstellen, solche Sachen.
Als dann der Krieg vor Ort war, wie war das für Sie? Verdrängt man dann, verfolgt man stündlich Nachrichten?
Beides. Immer wenn irgendeine Nachricht kam, dann ging das Zittern wieder los, die Angst um das eigene Kind. Oft gab es auch regelrechte Projektionen, Fantasien. Manchmal saß ich mit seinen Schwestern, wir schauten uns an und waren ganz sicher: Jetzt steht er gleich vor der Tür und klingelt! So ein Warten auf Godot. Er hatte ja total abgeschlossen mit seinem bisherigen Leben. Das fanden wir schon brutal, uns gegenüber, seinen Freunden, seiner Beziehung.
Fragt man sich nicht ständig, ob man etwas falsch gemacht hat?
Ich habe in manchen Situationen, auch mit Jakobs Schwestern, so gegenteilig wie möglich zum Konzept „Helikoptereltern“ gehandelt. Die Mutter und ich hatten schon eine total enge Bindung zu den Kindern. Aber so frei und unbeobachtet ich von meinen Eltern aufgewachsen bin, so sehr wollte ich, dass auch meine Kinder lernen, allein klarzukommen. Und da mache ich mir manchmal Vorwürfe. Gerade in den letzten beiden Jahren, bevor Jakob verschwand. Da lebte er nach der Trennung von der Mutter bei mir. Da frage ich mich schon manchmal, ob ich mich mehr hätte kümmern müssen.
Im Dezember 2018 kam der Anruf mit der Todesnachricht. Wie fühlt sich das an, die plötzliche Gewissheit nach jahrelanger Ungewissheit?
Surreal. Traumatisch. Die Gewissheit ist selbst surreal. Das dauert lange, bis das wirklich einsickert ins Bewusstsein. Wir konnten von Anfang an Witze machen, er selbst war ja auch so lustig. Selbst bei dem Anruf haben wir gescherzt: „Ach, der Spacken! Da hat er wieder geträumt und was verdödelt.“ Sein Kampfname „Şiyar“ war ja auch ironisch. Es heißt „der Wache“, aber er war ja total verträumt. Bis heute schwanke ich zwischen plötzlichen Heulkrämpfen und Lachen. Aber das Unverständnis bleibt.
Würden Sie gerne noch mal vor Ort fahren?
Das wäre mein Wunsch, wenn es einigermaßen Frieden gäbe und der Wahn ein Ende hat, dass ich dort seinen Begräbnisort finden und besuchen könnte.
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