Urteilsgründe im NSU-Prozess: „Formelhaft, ahistorisch und kalt“

Opferangehörige und ihre Anwälte kritisieren hart die vorgelegten Urteilsgründe zum NSU-Prozess: Diese seien ein „Mahnmal des Versagens“.

Elif Kubaşık, die Witwe des vom NSU in Dortmund erschossenen Mehmet Kubaşık

„Das Urteil hat keine Gerechtigkeit gebracht.“ Elif Kubaşık, Witwe des NSU-Opfers Mehmet Kubaşık Foto: Peter Kneffel/dpa-Pool/dpa

BERLIN taz | Es sind Worte tiefer Enttäuschung. „Die Gerechtigkeit, die ich uns gegenüber erhofft hatte, hat das Urteil nicht gebracht“, schreibt Elif Kubaşık an die Richter im NSU-Prozess. „Es ist, als ob Mehmet nur eine Nummer für Sie gewesen ist, als ob es unsere Fragen nicht gegeben hätte.“ Mehmet, der Mann von Elif Kubaşık. Erschossen vom NSU am 4. April 2006 in Dortmund.

Elif Kubaşık saß im NSU-Prozess, immer wieder. Sie sagte als Zeugin aus, sie sprach ein Schlusswort, sie reiste auch zur Urteilsverkündung am 11. Juli 2018. „Dieser Tag hat sich bei mir eingebrannt“, schreibt Elif Kubaşık. Weil der Vorsitzende Richter Manfred Götzl seinen Urteilsspruch nur „kalt“ heruntergelesen habe. Weil er sie, die Opferangehörigen, darin mit keinem Wort erwähnte. Weil er Ismail Yozgat, den Vater des erschossenen Halit Yozgat, „mit Unbarmherzigkeit“ zum Schweigen brachte, als dieser im Saal vor Schmerz aufschrie. Und weil Götzl nichts zu den vielen offenen Fragen sagte, welche die Familien bis heute zur NSU-Terrorserie umtreiben. Elif Kubaşık musste damals den Saal verlassen.

Und nun wiederholt sich alles.

Denn vor wenigen Tagen legte Götzls Senat seine schriftliche Begründung des NSU-Urteils vor. Auf 3.025 Seiten sezieren die RichterInnen darin die Schuld von Beate Zschäpe und den vier Mitangeklagten an der NSU-Terrorserie, an den zehn Morden, den zwei Anschlägen und den 15 Raubüberfällen. Beate Zschäpe erhielt dafür lebenslängliche Haft, vier Mitangeklagte bekamen Haftstrafen von zweieinhalb bis zehn Jahren.

3.025 Seiten Urteilsgründe, aber kein Wort an die Opfer

Aber auch auf diesen 3.025 finden sich keine Ausführungen dazu, welche Folgen die Morde für die Angehörigen hatten. Und auch keine Worte zum jahrelangen Versagen der ErmittlerInnen und VerfassungsschützerInnen bei der NSU-Terrorserie.

Für Elif Kubaşık ist das schwer zu verkraften. Deshalb schrieb sie nun ihre Erklärung, adressiert an Götzls Senat. Sie sei, um Antworten auf ihre Fragen zu bekommen, immer wieder ins Gericht gekommen, „obwohl es mir unendlich schwerfiel“. Warum wurden die Rechtsterroristen nicht gestoppt? Welche Helfer hatten sie? Was wusste der Staat? Sie habe auf Antworten dazu gehofft, und auf ein gerechtes Urteil, erklärt Kubaşık. Aber: „Dieses Urteil ist nicht gerecht.“

Wenn die Urteilsgründe mit 3.025 Seiten schon so lang seien, „warum haben Sie dann nicht wenigstens aufgeschrieben, wonach Sie uns gefragt haben, was diese Morde mit uns und unseren Familien angerichtet haben?“, fragt Kubaşık. Warum gibt es keine Ausführungen zu weiteren Helfern? Dazu, wie nah der Staat dem Trio war? Wie der Verfassungsschutz Akten zerstörte? „Wir wollten nichts Unmögliches“, schreibt Kubaşık. „Wir wollten, dass Sie uns ernsthaft zuhören. Uns, die schon vor allen anderen ahnten, dass hinter den Morden Nazis stecken. Wir wollten, dass Sie Ihre Pflicht tun. Dass Sie untersuchen, was geschehen ist. Dass Sie aufschreiben, was gesagt worden ist.“

Auch 19 Opferanwälte kritisieren Senat hart

Und Elif Kubaşık ist mit ihrer Abrechnung nicht allein. Auch 19 AnwältInnen von Opferangehörigen kritisieren in harschen Worten die vorgelegte Urteilsbegründung. Diese sei „formelhaft, ahistorisch und kalt“, heißt es in ihrer gemeinsamen Erklärung. Das Urteil negiere das Helfernetzwerk der Rechtsterroristen, verkürze die Beweisaufnahme „bis zur Unkenntlichkeit“ und trage „nichts zur Wahrheitsfindung im NSU-Komplex bei“. Das Versagen der Ermittler und des Verfassungsschutzes würden „totgeschwiegen“. Die Urteilsgründe legten offen, dass die Richter „kein Interesse an einer Aufklärung hatten“.

Und auch die AnwältInnen beklagen den Umgang mit den Opfern. Das Gericht stehe diesen „mit hässlicher Gleichgültigkeit“ gegenüber. In den Urteilsgründen würde über die Getöteten mit „extremer Kälte“ geschrieben und lediglich vermerkt, dass diese Menschen mit Migrationsgeschichte waren. Das Gericht gebe ihnen kein Gesicht, es mache sie zu „austauschbaren Statisten“. Das NSU-Urteil sei damit „ein Mahnmal des Versagens des Rechtsstaats, der die Angehörigen der NSU-Mordopfer über Jahre erst kriminalisierte und nun endgültig im Stich gelassen hat“.

Mit den vorlegten Urteilsgründen haben die VerteidigerInnen nun bis Mitte Mai Zeit, um ihre Revisionen für den Bundesgerichtshof zu begründen. Auch die Bundesanwaltschaft hatte Revision eingelegt, hier gegen das milde Urteil von zweieinhalb Jahren Haft für den Mitangeklagten André Eminger. Neonazis hatten dieses damals mit Jubel im Saal quittiert. Auch dies war ein Schock für die anwesenden Opferfamilien.

Viele Angehörigen scheinen nicht mehr an eine weitere Aufklärung der NSU-Terrorserie zu glauben. Elif Kubaşık tut es – trotz aller Enttäuschung – dennoch. Es gebe bis heute viele Menschen, die „für die Wahrheit kämpfen“, schreibt sie. Die Hoffnung auf Antworten habe sie daher „trotz allem nicht ganz aufgegeben“.

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