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Urteile zum Hambacher ForstSechs Monate zu Unrecht im Knast

Die juristische Aufarbeitung der Hambach-Besetzung dauert an. Harte Urteile der ersten Instanz werden vom Landgericht kassiert.

Hambacher Wald im September 2018: Die Polizei räumte die Baumhäuser Foto: dpa

AACHEN taz | Die Angeklagte kommt ganz in Schwarz. Toni H., 20, ist von ihrem Wohnort Rostock zum Amtsgericht Aachen angereist, wo gegen sie verhandelt wird. Im September 2018 hatte sie die Menschen am besetzten Hambacher Wald in ihrem Wohnwagen mit Essen versorgt. „Solidarisches Kochen“ hieß das. Bei einer Polizeikontrolle gab H. ihre Personalien an, durchaus korrekt, aber ohne einen Ausweis vorlegen zu können. Deshalb musste sie ins Polizeipräsidium Aachen, zur ID-Feststellung.

Dort versuchte H. zu verhindern, dass ihre Fingerabdrücke genommen wurden. Dabei soll sie versucht haben, einen Polizisten ins Bein zu beißen. Der junge Staatsanwalt spricht bei der Verhandlung von „körperlicher Misshandlung“ und „tätlichem Angriff auf einen Amtsträger“.

Das Verfahren ist eines von etlichen, die seit der rabiaten Waldräumung mit Tausenden Einsatzkräften im September 2018 gegen Protestierende im und rund um den Hambacher Forst laufen. Immer wieder landeten Aktivistinnen und Aktivisten in U-Haft, teils lange. Meist lauten die Vorwürfe: Widerstand gegen die Staatsgewalt oder Körperverletzung.

Am Freitag sind die beiden als Zeugen geladenen Polizeibeamten der Wahrheitsfindung vor Gericht wenig dienlich. Der eine kann sich nicht erinnern, ob er wirklich dabei war („da waren so viele …“), der andere nur an das Gefühl von H.s Mund an seinem linken Oberschenkel, als sie neben ihm hockte. Wunde? Gebissabdruck? Nein. Hose kaputt? Auch nicht. Der Staatsanwalt wiegelt ab: Normal sei eine „Nulltoleranzstrategie bei Angriffen auf Vertreter des Staates“, aber in diesem „absoluten Ausnahmefall“ könne man es auch beim Tatbestand der einfachen Widerstandshandlung belassen. Der Richter nickt: „Fünf Sozialstunden?“ – „Na, zehn sollten es schon sein.“ Urteil: Zehn Sozialstunden. Nach 45 Minuten ist der Spuk vorbei.

Eine unbekannte Zahl an Verfahren

Selten gehen Verfahren um den Hambacher Wald, der dem Braunkohle-Abbau im Tagebau Hambach im Weg steht, so glimpflich aus. Wie viele es genau gibt, weiß niemand, auch weil sie nach Jugendstrafrecht oft am Wohnsitzort stattfinden, nicht am Tatort. Viele der vorläufig Festgenommenen waren noch keine 21 Jahre.

Eine der bekanntesten Gefangenen, die sich „Eule“ nennt, war wegen versuchten Tretens nach einer Polizeibeamtin von Richter Peter Königsfeld zunächst zu neun Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt worden. Königsfeld diagnostizierte „erhebliche schädliche Neigungen“ – ein Begriff aus lange vergangenen Zeiten.

Eule saß inklusive U-Haft über ein halbes Jahr ein. Das Landgericht Köln kassierte erst die Haft und im Mai das Urteil. Stattdessen verfügte das Gericht drei Wochen Jugendarrest, die durch die Haft abgegolten waren. Zudem habe Eule binnen sechs Monaten 40 Sozialstunden abzuleisten, möglichst im Bereich Umwelt- und Naturschutz.

Bei der jungen Frau soll es sich, so hatte das Landgericht per Fotoabgleich mit dem Berliner Einwohnermeldeamt herausgefunden, um die 19 Jahre alte Paula W. handeln. Die Gutachterin in Kerpen hatte sie nach umfänglichen Untersuchungen zu 79,8 Prozent Wahrscheinlichkeit als 21 oder älter geschätzt. Die 20,2-Prozent-Jugendliche äußerte sich nicht zur Identität. Dadurch entging ihr Haftentschädigung. Auch sonst war sie wenig kooperativ: Ein langes taz-Interview im Mai gab sie nicht frei, weil ihr einzelne Passagen nicht passten.

Wo steckt „Eule“?

Was aus Eule wurde, weiß weder die Gefangenenbetreuungsorganisation Anarchist Black Cross Rhineland noch ihr Anwalt Christian Mertens: „Nach Rechtskraft eines Urteils bin ich rechtlich raus.“ Weder das Landgericht, die Staatsanwaltschaft Köln noch das Amtsgericht Kerpen konnten oder wollten auf taz-Anfrage Auskunft geben, was aus den Sozialstunden geworden ist.

Dem Hambacher Wald geht es derweil nach zwei Sommern extremer Trockenheit nicht gut. Bagger des Energiekonzerns RWE haben ihre Schneisen bis auf 50 Meter an das Gehölz herangetrieben und verharren als ständige Drohung in der Nähe. Die Räumung diente, wie anhand von Regierungsdokumenten längst belegt ist, nicht dem vorgeschobenen Brandschutz der Baumhäuser, sondern allein, um Platz für die Kettensägen zu machen.

Längst ist der Wald wieder besetzt. 70 bis 80 teils mächtige Baumhäuser sind neu gebaut. Die Polizei meldet bisweilen Provokationen gegen RWE-Sicherheitsdienste. Die regionale Presse macht mit solchen Meldungen Stimmung gegen die „angeblichen Waldschützer“ und „Linksextremisten“. Bis Ende 2020 herrscht ein gerichtlich verfügter Rodungsstopp.

Das Amtsgericht Kerpen verurteilte auch eine anfangs namenlose australische Aktivistin zu neun Monaten Haft. Kurios: Die Identität der 23-Jährigen klärte sich nur, weil ihre besorgte Mutter aus Down Under eine Vermisstenmeldung aufgab: Sie hatte lange nichts von der Tochter gehört. Die saß da auch schon vier Monate in U-Haft. Wieder hob das Landgericht Köln das Urteil auf.

Fürs Trommeln verurteilt

Auch eine andere junge Frau, behördlich „UPIII“ getauft (für Unbekannte Person), landete bei Richter Peter Königsfeld. Sie hatte im Wald getrommelt, als andere angeblich Böller in Richtung von Polizeibeamten warfen. Urteil: zum dritten Mal neun Monate Haft ohne Bewährung wegen „Beihilfe zur versuchten gefährlichen Körperverletzung“. Erzieherisches Ziel: „generalpräventiver Charakter“.

Anwalt Christian Mertens beschreibt die juristische Aufarbeitung so: „Es gibt halt Gerichte, die Andersdenkende mit besonderen Strafen überziehen.“ Gleichwohl hatte das Landgericht Köln auch dieses Urteil kassiert, die Staatsanwaltschaft aber bestand auf Revision. Also ging das widerständische Trommeln vor das Oberlandesgericht. Am Freitag war Verhandlung. Ergebnis: Freispruch. UPIII saß über sechs Monate zu Unrecht im Knast.

Das macht mich schier fassungslos

Frank Hatlé, Anwalt von „UPIII“

Das sei vorhersehbar gewesen, sagt ihr Anwalt Frank Hatlé: „Die Haftentscheidungen wie auch die Beweisaufnahme und das Urteil des Strafrichters Königsfeld waren sachlich nicht nachvollziehbar und offensichtlich fehlerhaft.“

Was heißt das konkret? „Der Strafrichter Königsfeld hatte am ersten Hauptverhandlungstag vorgespiegelt, die Identität der Angeklagten nicht zu kennen“, sagt der Anwalt. Aus dem Protokoll der Hauptverhandlung ergebe sich jedoch das Gegenteil: „Das muss die Angeklagte rückblickend als hinterhältig würdigen, denn der Richter hat sein hartes Urteil nicht zuletzt darauf gestützt, dass sie ihre Personalien nicht mitteilen wollte.“ Ihn selbst, sagt Hatlé, mache das „schier fassungslos“.

Der Prozess gegen „Winter“ steht kurz bevor

Die Aktivistinnen Jazzy und Winter, deren emotionales Video-Statement unmittelbar nach der Festnahme vier Millionen Mal geklickt wurde, saßen zwei Wochen in U-Haft, bis Christian Mertens Haftverschonung erwirken konnte. Der Prozess gegen Winter findet, fast anderthalb Jahre danach, am kommenden Freitag vor dem Amtsgericht Düren statt.

Zu den bekannten Fällen kommen kleinere: B-Mike bekam im Sommer 2019 vier Tage Ordnungshaft, weil er barfuß vor Gericht erschienen war. Die Mitangeklagte Luna folgte, weil sie keine Lust hatte, vor Gericht aufzustehen.

Das Muster immer wieder: Erst Aufregung über angebliche Gewalt der WaldschützerInnen, Klagen, Gedächtnislücken, widersprüchliche Aussagen. Dann in der ersten Instanz oft happige Urteile – die anschließend wieder kassiert werden.

Eine Entscheidung, ob der Wald erhalten bleibt, steht auch ein Jahr nach der Vereinbarung der Kohlekommission aus, die den Erhalt als „wünschenswert“ bezeichnet. RWE verhandelt weiter über Kompensationszahlungen und schafft mit Abrissen in den weitgehend verlassenen Nachbardörfern Fakten.

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18 Kommentare

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  • Was passiert eigentlich mit Richtern, die ganz offensichtlich das Recht brechen?



    Verlieren die ihren Job?



    Werden sie gerügt?



    Müssen die sich offiziell entschuldigen?



    Werden sie befördert?

    • @Mainzerin:

      Es gibt eine Dienstaufsichtsbeschwerde. Und dann eine Prüfung des Sachverhaltes. Und dann eine Suspendierung.

    • @Mainzerin:

      Üblicherweise: Letzteres

  • Es ist erschreckend, dass die Richter so viel Macht haben und diese scheinbar missbrauchen, um ihre eigene Agenda durchzusetzen.



    Das bedeutet nicht, dass ich Angriffe auf Polizisten toleriere. Doch hier sollte die Strafe ausgesprochen werden, die angemessen ist.

  • Die "schädlichen Neigungen" stehen mehrfach genau so im Gesetz (JGG) und wurden nicht von einem reaktionären Richter erfunden. Und ihre Bedeutung ist durch die Rechtsprechung des BGH auch nicht mehr so wie in den "lange vergangenen Zeiten".

  • Wenn sichheute jemand über den Poilzeieinsatz am Hambacher Forst beschwert oder ihn gar als rabiat bezeichnet, so wie es im Artikel der Fall ist, dann wird er doch nicht etwa vergessen, daß es Länder gibt, in denen man die Besetzer statt mit Hebebühnen und Kletter-Polizisten mit dem Maschinengewehr von den Bäumen geholt hätte.



    Rechtsstaatlichkeit und Humanismus sind keine gottgegebenen Selbstverständlchkeiten!



    Der Mensch scheint das nur leider allzu leicht zu vergessen, wenn er sich erst mal dran gewöhnt hat ...

    • @Denkender_Buerger:

      "Wenn sichheute jemand über den Poilzeieinsatz am Hambacher Forst beschwert..."

      ...wozu es tatsächlich Grund genug gibt...

      "...oder ihn gar als rabiat bezeichnet..."

      ...was eine treffende Bezeichnung ist...

      "...wird er doch nicht etwa vergessen, daß es Länder gibt..."

      Ja, die gibt es. Das ist den meisten von uns hier schmerzlich bewusst. Wie Sie es aber in diesen Kontext bringen ist... reichlich merkwürdig. Sie wünschen sich nicht etwa solche Zustände herbei, oder?

    • @Denkender_Buerger:

      "Rechtsstaatlichkeit und Humanismus sind keine gottgegebenen Selbstverständlchkeiten!"

      Richtig, und deshalb müssen sie unnachgiebig verteidigt werden.

      Von daher ist es das gute Recht eines jeden in einem humanistisch geprägten Rechtsstaat Lebenden, sie als selbtverständlich zu behandeln. Langfristig würde ich es sogar als unverzichtbar betrachten, diese Einstellung zu leben. Sonst sind nämlich diese "Nicht-Selbstverständlichkeiten" möglicherweise auch ganz schnell wieder Geschichte.

    • @Denkender_Buerger:

      was wollen Sie damit eigentlich sagen ?



      soll man vor Glück kuschen weil man Rechte hat die im Grundgesetz verankert sind und diese ja nicht wahrnehmen?

  • 9G
    99140 (Profil gelöscht)

    Rechtsstaat.



    Rechtsstaat?

    • @99140 (Profil gelöscht):

      Rechts-Staat!

      • @tomás zerolo:

        Rechthaber-Staat!

        oder

        Rechter Staat :( sind Schließlich auch die Nazis die nicht an den Klimawandel glauben ):

  • Ich kann leider nicht erkennen, ob das ein Kommentar oder Berichterstattung ist. Man hat das Gefühl, der Autor will, dass gar nichts passiert. War doch für 'ne gute Sache.

    • @Will Nicks:

      "Der Autor" will, dass den Taten entsprechende Strafen verhängt werden, so wie es die Berufungsgerichte im Wesentlichen getan haben.



      "Der Autor" will, dass ungerechtfertigte Einschüchterung durch Polizei und Strafgerichte, d.h. unberechtigte U-Haft, frei erfundene Vorwürfe und politisch motivierte Urteile, unterlassen werden -- kurz: er will mehr Rechtsstaat.

      [Natürlich ist auch das nur meine Interpretation des Geschriebenen]

  • Nur mal zu Toni H.

    Es gibt - vielen Polizeibeamten - nach eigener Erfahrung unbekannt.



    Es gibt in Schland keine Pflicht den Persi mitzuführen. (mach ich nie).



    & First!!



    Verhältnismäßigkeit - Übermaßverbot.



    D. h. - Für eine erkennungsdienstliche Erfassung.



    Ist keine Veranlassung & damit keine Rechtsgrundlage zu erkennen.

    kurz - Wahrung der eigenen Rechte einschl. Gegenwehr zulässig!



    Sodrum wird ein Schuh draus!



    & Däh!



    Da wird’s eng wg Verurteilung. Newahr.



    Normal - Schonn.

    • @Lowandorder:

      > Wahrung der eigenen Rechte einschl. Gegenwehr zulässig!

      Wie sieht das konkret aus, insbesondere Gegenwehr ?

      • @horsefeathers:

        Sach mal so -

        “ Notwehr gegen hoheitliches Handeln“



        www.rechtslupe.de/...hes-handeln-397422 -



        Viel Spaß beim lesen - & … a.E. wird dann die “Bodenlosigkeitstheorie“ -



        “ das Unrecht auf die Stirn geschrieben“ - bemüht. Was einen letztlich auch im Regen stehen läßt - der Bürger sitzt aus vielen Gründen regelmäßig am kürzeren Hebel - will sagen - mit einem Bein - mindestens immer im Knast.

        kurz - “Es kommt drauf an.“ - wie der Jurist zu sagen beliebt.

        • @Lowandorder:

          Interessanter link - Danke dafür und auch auch für die Klarstellung:



          > der Bürger sitzt aus vielen Gründen regelmäßig am kürzeren Hebel - will sagen - mit einem Bein - mindestens immer im Knast.