Urteil im Fall George Floyd: Schuldig
Tränen und Freudentänze: Nach der Urteilsverkündung feiern Menschen bis tief in die Nacht. „Wir können jetzt wieder atmen“, sagt Floyds Bruder.
An zahlreichen Orten im Land folgten Tränen, Freudentänze und Hupkonzerte, die bis tief in die Nacht dauerten. Im Namen der Familie von George Floyd sagte sein Bruder Philonise bei einer ersten Pressekonferenz: „Wir können jetzt wieder atmen.“ US-Präsident Joe Biden erklärte in einer Ansprache an die Nation, dass „der Mord bei vollem Tageslicht die Scheuklappen von dem systemischen Rassismus gerissen hat“.
Auf den Nachrichtenkanälen im Fernsehen begann ein langer Abend, an dem mehr schwarze InterviewpartnerInnen zu Wort kamen als sonst. Es war Mord und es war Totschlag. Derek Chauvin, der Polizist, unter dessen Knie der gefesselte, unbewaffnete und um sein Leben flehende George Floyd am 25. Mai vergangenen Jahres seinen letzten Atemzug getan hat, ist in allen Punkten schuldig.
Zu diesem klaren Ergebnis kamen die zwölf Geschworenen in Minneapolis. Sie haben dafür weniger als zwei Tage gebraucht. Der Verurteilte Derek Chauvin, der während seines Prozesses geschwiegen und seinen Blick nur selten von dem gelben Notizblock, auf dem er sich Aufzeichnungen machte, abgewandt hatte, reagierte auch auf das Ende ohne Worte. Er hielt seine Hände auf dem Rücken, ließ sich Handschellen anlegen und abführen. In zwei Monaten wird er sein exaktes Strafmaß erfahren.
Nach dem dreifachen Schuldspruch kann es mehr als 40 Jahre Gefängnis bedeuten. Nach Jahren von Polizeigewalt gegen Schwarze und People of Colour, die nur in seltenen Ausnahmefällen zu Anklagen und kaum je zu Verurteilungen geführt haben, unterscheidet sich das Urteil von Minneapolis radikal von der bisherigen Polizei- und Justizgeschichte.
Empfohlener externer Inhalt
Der schwarze Anwalt Benjamin Crump, der nicht nur die Familie Floyd, sondern auch die Angehörigen von zahlreichen anderen Polizeiopfern vertreten hat, sprach am Dienstagabend in Minneapolis von einem „Sieg für alle Amerikaner“. Für seine Landsleute hatte er folgende Empfehlung: „Wir sollten uns in diesen Moment hinein lehnen“. Der schwarze Prediger Al Sharpton, der in den zurückliegenden Monaten ebenfalls häufig bei der Familie Floyd präsent war, richtete sich bei bei der selben Pressekonferenz an Gott. Er bat ihn, George auszurichten, dass er eine Figur für die Geschichte geworden sei.
Der Mord an der Straßenkreuzung in Minneapolis, die heute nach George Floyd benannt ist, war zugleich ähnlich und radikal anders als andere Fälle tödlicher Polizeigewalt in den USA. Ähnlich war, dass die örtliche Polizei – inklusive der drei anderen Polizisten, die mit Chauvin im Einsatz waren und sich in getrennten Verfahren vor Gericht verantworten müssen – zunächst versuchte, die tödliche Gewalt zu vertuschen.
Ein Festgenommener sei nach der Einlieferung in ein Krankenhaus verstorben, hieß es in einer ersten Version. Anders war, dass eine junge Passantin – die zum Tatzeitpunkt 17-jährige Gymnasiastin Darnella Frazier – die komplette Gewaltszene gefilmt hat. Ihr Video, das sie noch am Tatabend auf Facebook stellte, änderte alles. Am Morgen danach wandte sich der Polizeipräsident von Minneapolis von allen vier beteiligten Polizisten ab.
Vielerorts Polizeireformen
In dem Prozess war Polizeipräsident Medaria Arradondo einer von zahlreichen PolizistInnen, die Derek Chauvin offen kritisierten. Dessen Verhalten, so erklärten Polizeichefs und Polizeiausbilder im Zeugenstand, habe sowohl gegen die Regeln als auch die Ausbildung von PolizistInnen verstoßen und sei unangemessen und unverhältnismäßig gewesen.
Doch der Hauptunterschied zu vorausgegangenen polizeilichen Gewalttaten war die Reaktion auf den Straßen der USA. Unter dem Banner von Black Lives Matter und anderen Bürgerrechtsgruppen gingen Millionen US-AmerikanerInnen auf die Straße. Sie trotzten der Pandemie und verlangten weitgehende Polizeireformen, die von der Kürzung der finanziellen Ressourcen und der Waffen bis zur Abschaffung der Polizei reichten.
Kongressabgeordnete Joyce Beatty
Sie ließen sich nicht beeindrucken: weder von brutalen Polizeieinsätzen mit Pfefferspray, Knüppeln und Tränengas, noch von Massenfestnahmen und dem Versuch, ihre Bewegung als „gewalttätig“ zu kriminalisieren. Sie blieben über Monate aktiv. Anders als bei früheren Protesten gegen Rassismus – inklusive der Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre – beteiligten sich erstmals auch große Gruppen von weißen und asiatischen US-AmerikanerInnen an den Protesten.
Ihre Forderungen haben vielerorts bereits zu ersten Polizeireformen geführt. Und das Echo ihrer Bewegung hallte in die Präsidentschaftswahlen hinein. Seit dem Beginn der neuen Legislaturperiode sind mehrere Gesetzentwürfe, die auf ihre Forderungen zurück gehen, in den Kongress gekommen.
Am Dienstagabend warteten die Mitglieder der schwarzen Fraktion im US-Kongress gemeinsam auf die Verkündung der Entscheidung der Geschworenen. „Das Urteil bringt niemanden zurück ins Leben“, sagte anschließend ihre Sprecherin, die Abgeordnete Joyce Beatty aus Ohio, in Washington. „Aber hoffentlich wird es uns in Zukunft helfen“.
Ex-Präsident Donald Trump zeigte weder Mitgefühl mit den Floyds noch Interesse an polizeilichen Reformen. Stattdessen versuchte er, seine Rückendeckung für die Polizei wahltaktisch zu nutzen. Seine rechte Basis mobilisierte zugleich gegen Black Lives Matter und für die „Blauen“ – die Farbe der Polizeiuniform. Die großen Polizeigewerkschaften gehörten zu Trumps entschiedenen Unterstützern. Joe Biden stützte sich im Wahlkampf auf die Netzwerke von afroamerikanischen DemokratInnen in den Südstaaten. Nach seiner Wahl holte er zahlreiche VertreterInnen aus den „Minderheiten“ in sein Kabinett.
Seit seinem Wahlkampf stand Biden in Kontakt zu den Angehörigen des ermordeten George Floyd. Aber während des Prozesses gegen Derek Chauvin enthielt sich Biden jeder Äußerung. Erst am Dienstagabend reagierten er und Vizepräsidentin Kamala Harris im Weißen Haus.
Chauvin zeigte keine Geste des Bedauerns
Der Anlass für den Polizeieinsatz, der George Floyds Leben kostete, war eine Lappalie. Ein Supermarktbesitzer hatte wegen eines gefälschten 20-Dollar-Scheins die Polizei geholt. Die Unverhältnismäßigkeit, mit der die Polizei vorging, löste bei PassantInnen, die am 25. Mai die tödliche Szene sahen und versuchten, den Mord verbal zu verhindern, Schuldgefühle aus, die bis heute anhalten.
Aber Derek Chauvin hat in seinem Prozess kein einziges Wort und keine Geste des Bedauerns gezeigt. Sein Verteidiger bezeichnete sein mörderisches Vorgehen als „vernünftig“. Nach den Schuldsprüchen gegen Derek Chauvin suchten konservative Juristen nach Erklärungen und Auswegen aus dem Dilemma für die Polizei. Auf dem rechten Fernsehsender Foxnews bemängelte der Jurist Alan Dershowitz, dass der Prozess in Minneapolis stattgefunden habe sowie dass die Geschworenen nicht während des kompletten Prozesses isoliert worden seien.
Beides, so eine häufige Kritik von rechts, habe angeblich die Atmosphäre im Gericht beeinflusst. Vor Bekanntwerden der Entscheidung der Geschworenen war die Polizei an vielen Orten der USA auf wütende Reaktionen auf den Straßen vorbereitet. Stattdessen erlebte sie Freudenausbrüche und Hoffnung auf Veränderung.
George Floyd war kein Einzelfall. Auf dem Platz, an dem er ermordet worden ist, stellten AktivistInnen am Abend der Geschworenenentscheidung auch die Bilder von Dutzenden anderer Opfer von tödlicher Polizeigewalt auf. Einer der neueren Namen auf der Totenliste ist Daunte Wright. Der 20-jährige Afroamerikaner wurde wenige Tage vor dem Prozessende nur 16 Kilometer entfernt von einer weißen Polizistin bei einer Verkehrskontrolle erschossen. Die Hoffnung nach der Geschworenenentscheidung von Minneapolis lautet, dass nach Jahrzehnten der Verweigerung von Gerechtigkeit für die Opfer von Polizeigewalt nun eine neue Ära beginnen könnte.
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