Unkritisches Interview im DLF: Eine Lüge folgt der nächsten
Der Deutschlandfunk interviewt zur besten Sendezeit den russischen Botschafter. Heraus kommen 20 Minuten voller unwidersprochener Lügen.
Es ist journalistisch ehrenwert, mit allen sprechen zu wollen. Selbstverständlich kann man auch den russischen Botschafter Sergej Netschajew als überaus relevanten Gesprächspartner betrachten. Es ist schließlich sein Land, das die Ukraine mit Krieg und Terror überzieht. Der Deutschlandfunk sah jedenfalls einen journalistischen Nutzen darin, auch die Perspektive des Aggressors zu Wort kommen zu lassen, und sendete am Dienstagmorgen ein Interview mit Netschajew. Was eine kritische Befragung hätte sein sollen, wurde zur schwer erträglichen russischen Propagandashow. Die meisten Lügen blieben unwidersprochen.
Schon die Wahl des Interviewortes irritiert. Der DLF-Redakteur sprach in der russischen Botschaft mit Netschajew. Wieso ein Interview genau dort stattfinden muss, bleibt offen. Der Redakteur ist anfangs bemüht zu erfahren, unter welchen Bedingungen Russland verhandlungsbereit wäre. Dass er keine eindeutige Antwort erhält, spricht für sich. Als der Moderator fragt, warum Russland den demokratisch gewählten ukrainischen Präsidenten Selenskyj nicht anerkennt, fährt Netschajew ihn an: „Entweder Sie unterbrechen mich, oder ich beantworte Ihre Fragen!“. Ab diesem Moment hakt der Interviewer kaum mehr kritisch nach. Es entsteht der Eindruck, dass er seinen Gesprächspartner vor allem nicht verärgern will.
Als Netschajew behauptet, die Nato befinde sich „total im Konflikt gegen Russland“, wenn sie der Ukraine erlaube, Ziele in Russland zu zerstören, erwidert der Journalist: „Es ist nicht an uns, das auszudiskutieren.“ Wieso stellt er nicht richtig, dass es zweifelsohne völkerrechtskonform ist, die russische Kriegsmaschinerie zu zerstören, mit der Kinderkrankenhäuser bombardiert werden? Er fragt den Botschafter des Kriegsverbrechers Putin, wie der Krieg enden könnte, anstatt zu fragen, wann Russland seine Truppen zurückzieht.
Den traurigen Höhepunkt erreicht das Interview mit der Istanbul-Lüge. Netschajew fabuliert, der Westen habe der Ukraine bei den Verhandlungen in Istanbul im Frühjahr 2022 verboten, mit Russland Frieden zu schließen. Es ist eine altbekannte Mär. In Wahrheit endeten die Verhandlungen, weil die entsetzlichen Kriegsverbrechen von Butscha ans Licht kamen. Der Moderator hält es nicht für notwendig, Netschajew damit zu konfrontieren. Dabei hätte er genau auf diese Situation vorbereitet sein müssen. Er dürfte es auch nicht einfach hinnehmen, dass Netschajew unentwegt vom „Kiewer Regime“ spricht, als wäre die Ukraine ebenso eine Diktatur wie Russland.
Eine Lüge Netschajews folgt auf die nächste. Es sei Russland bei seinem Krieg um den Schutz der russischen Bevölkerung in der Ostukraine gegangen, gegen die die Ukraine „militärisch gekämpft“ habe. Das ist falsch. Zu keinem Zeitpunkt wurden russischsprachige Menschen in der Ukraine von der ukrainischen Regierung unterdrückt oder bekämpft. Der Moderator sagt nur, dass es dazu „andere Sichtweisen“ gebe. Natürlich kann in einem 20-minütigen Interview nicht jedes Detail korrigiert werden, aber für eine entschiedene Zurückweisung der bekanntesten russischen Lügen muss genug Zeit sein.
Zum Schluss möchte der Interviewer nochmal Netschajews Einschätzung zu den deutsch-russischen Beziehungen erfahren. Der beklagt melancholisch, dass nun „auf Wunsch der deutschen Seite alles auf Eis gelegt“ worden sei, obwohl Russland so viel für die Annäherung der beiden Länder getan habe. Man hätte dies zum Anlass nehmen können, nochmal auf Russlands alleinige Verantwortung für den größten Angriffskrieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg hinzuweisen. Der Moderator bedankt sich lieber „sehr“ für das Gespräch. Es endet ein Interview, das des Deutschlandfunks nicht würdig ist. Später folgt eine Einordnung des Gesprächs.
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