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Unbeliebte US-VizepräsidentinPolitische Kosmetik

Kommentar von Jan Schroeder

Die Vizepräsidentschaft von Kamala Harris in den USA ist kein Fortschritt. Aber sie könnte helfen, Illusionen über Identitätspolitik zu zerstreuen.

Kamala Harris ist die unbeliebteste US-Vizepräsidentin der Geschichte Foto: Gerald Herbert/ap

U S-Vizepräsidentin Kamala Harris kann sich wirklich nicht über schlechte Presse beklagen. Das renommierte Time-Magazin und die international bekannteste Modezeitschrift Vogue widmeten Harris Sonderausgaben, kaum dass sie überhaupt das Amt angetreten hatte. Mit messianischem Pathos zelebrierten etliche Leitmedien von The New York Times bis zur deutschen Zeit sie monatelang in großen Lettern als „die Hoffnung“. Als erste Frau und erste nicht-weiße Vizepräsidentin soll die „Top-Polizistin“, wie sie sich selbst nennt, den historischen Fortschritt zu immer größerer Gleichberechtigung repräsentieren. Doch inzwischen ist sie, glaubt man den Umfragen, die unbeliebteste Vizepräsidentin, die Amerika je hatte.

Die Demokraten erklären das reflexartig mit Rassismus. Dabei wird unterschlagen, dass Harris (bei gerade mal 27 Prozent Zustimmung) auch das eigene demokratische Lager enttäuscht. Knapp 60 Jahre nach der rechtlichen Gleichstellung der Schwarzen Bevölkerung lässt wirklicher Fortschritt auf sich warten. Nach wie vor sind Schwarze überproportional arm und ringen deshalb beispielsweise häufiger mit Suchtproblemen und sterben öfter an Corona als andere Bevölkerungsgruppen. Während der Pandemie fiel die Lebenserwartung unter der Demografie so stark wie zuletzt in den 1930er Jahren, der Zeit der Großen Depression nach der Weltwirtschaftskrise von 1929.

Die Biden-Regierung thematisiert solche Realitäten nicht einmal. Schon Obama trat in zwei Präsidentschaftswahlen mit dem Slogan „Hoffnung“ an, lächelte fleißig und veränderte nichts. Black Lives Matter (BLM) begann 2013 als Frustration über seine Politik. Nach fünf Jahren Obama wurde vielen aus der Unter- und Mittelschicht klar, dass sich ihre Lebensrealität eher noch verschlechtert. Dieselben Wähler, die 2008 und 2012 noch für den von Obama versprochenen „Change“ stimmten, wendeten sich so 2016 zum Teil Trump zu. Diese sogenannten „Obama-Trump-Wähler“, die einer Analyse der New York Times zufolge am Ende das Zünglein an der Waage ausgemacht haben, entschieden die Wahl für Trump. Dazu gehören auch Schwarze, unter denen Trump mit einer Ausnahme (Dole 1996) mehr Stimmen als seine republikanischen Vorgänger seit 1980 holte.

Harris repräsentiert die Identitätspolitik der Biden-Regierung, die außer mehr Minderheiten in Führungspositionen und symbolischen Gesten gegen Rassismus nichts zu bieten hat. Sie wird nicht wegen ihrer Identität verachtet, sondern weil sie diese instrumentalisiert und vorgibt, für jene benachteiligten „Communities“ zu sprechen, deren Belange sie in Wirklichkeit immer wieder missachtet hat. Deshalb ist Harris noch unbeliebter als Biden, der zumindest als weniger heuchlerisch wahrgenommen wird.

Jan Schroeder

beschäftigt sich mit kritischen Denkern und Ideen in der Tradition der Aufklärung und des Marxismus. Er hat Philosophie und Soziologie in Frankfurt am Main und Madrid studiert, ist Mitglied des 2006 in Chicago gegründeten Bildungsprojekts „Platypus Affiliated Society“ und Redakteur der taz.

Ein kleiner Auszug aus ihrem Lebenslauf hilft das zu verstehen: Als Generalstaatsanwältin von Kalifornien versuchte Harris ein Urteil des Obersten Gerichtshofs abzuwehren, das die frühzeitige Freilassung von 40.000 – überwiegend Schwarzen – Gefängnisinsassen wegen „grausamer und ungewöhnlich harter Haftbedingungen“ einforderte. 2012 hielt sie wissentliche Beweise zurück, die einen unschuldigen Mann aus dem Todestrakt befreit hätten (bis ein Gericht sie dazu zwang), und 2015 klagte sie erfolgreich die Wiedereinführung der Todesstrafe in Kalifornien ein. Wer Harris kennt, traute weder ihrer progressiven Selbstinszenierung im Wahlkampf 2020 noch ihrem Versprechen, sich für die Rechte von Immigranten und die Reform des Justizsystems einzusetzen – ganz zu schweigen von ihrer ebenso dreisten wie kurzlebigen Begeisterung für den Slogan der BLM-Proteste 2020 „Defund the Police“. Wenig überraschend hat die insgesamt unbeliebte Biden-Regierung nach dem Sieg das genaue Gegenteil all jener Reformvorhaben forciert: Das Budget der Polizei wurde erhöht. In Richtung der Immigranten verkündete Harris „Kommt nicht … wir werden euch abschieben“, während die von den Demokraten unter Trump noch lautstark skandalisierten Kinder-Abschiebekäfige weiter betrieben werden.

Rassismus erklärt nicht alle Probleme von Minderheiten in den USA, wie Harris und die Demokraten glauben machen wollen. Der Schwarze Sozialist Bayard Rustin verwies schon in den 1960er Jahren darauf, dass Schwarze nicht an schlechten Ansichten, sondern schlechten sozialen Bedingungen leiden. Rustin war einer der Hauptorganisator hinter dem Marsch auf Washington 1963, auf dem sein enger Weggefährte Martin Luther King seine berühmte Rede „I have a dream“ hielt. Für Rustin war der in den 1970er Jahren neu aufkommende „Antirassismus“ eine Abwendung von Politik insgesamt.

Der Marsch auf Washington damals forderte „Jobs und Freiheit“, stellte konkrete Forderungen und war in eine größere strategische Ausrichtung der sozialistischen Linken eingebettet, die in den 1960er Jahren den – letztendlich gescheiterten – Versuch machte, die Bürgerrechtsbewegung und die Arbeiterbewegung in den USA im Rahmen des Aufbaus einer dritten, Sozialistischen Partei zusammenzuführen. Die antirassistische Identitätspolitik, ohne Forderungen und ohne Strategie, trat an die Stelle dieses Versuchs. Obwohl sie das Erbe der Bürgerrechtsbewegung Mitte des letzten Jahrhunderts zu Werbezwecken immer wieder bemüht, steht sie keineswegs in deren Tradition. Die identitätspolitische Performance von Politik ist – wie der Schwarze Sozialtheoretiker Adolph Reed Junior bemerkte – genauso ineffektiv wie Mahnwachen für den Weltfrieden. Das macht sie vollends kompatibel mit der auf Big Business fokussierte Agenda der Demokraten.

Mit Kamala Harris erreicht das identitätspolitische Fortschrittsversprechen jedoch ein Limit. Die Unzufriedenheit mit ihr im Besonderen und der Biden-Regierung insgesamt drückt das Verlangen nach einer neuen Form von Politik aus, die soziale Verhältnisse direkt in den Blick nimmt.

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17 Kommentare

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  • Identitätspolitik als neoliberale Blendgranate um von der sozialen Frage abzulenken?



    Sahra bist du es?

  • "2012 hielt sie wissentliche Beweise zurück, die einen unschuldigen Mann aus dem Todestrakt befreit hätten (bis ein Gericht sie dazu zwang)"

    Äh, is das nicht strafbar? Oder ist es in den USA so wie bei uns: wenn es ein(e) Politker(in) eine Straftat begeht, ist er/sie quasi immun?

  • Es wird mir beim Artikel nicht ganz klar was eigentlich von Kamala Harris gewünscht wird. Eine sozialere Politik? Wie wir wissen, wimmelt es ja nicht gerade von Alternativen für die Amerikaner:innen. Im Ergebnis des geschriebenen schließe ich, dass doch lieber eine republikanische Regierung herbeigewünscht wird, und so wird um die Ecke herum doch in das neoliberale Horn geblasen. Gefällt mir nicht.



    Mann kann sich unschwer vorstellen, wie die neoliberalen Thinktanks intensiv daran arbeiten Kamala Harris als "glaubt-man-den-Umfragen,-die-unbeliebteste -Vizepräsidentin,-die-Amerika-je-hatte" hinzustellen. Das muss die TAZ aber nicht unbedingt noch reproduzieren.

    • @Nilsson Samuelsson:

      Guten Tag Herr Samuelsson, ich muss ihnen einen Irrtum nehmen: Nicht nur die Republikaner sind neoliberal.

      Das ist übrigens die große Tragödie der USA. Egal wie laut die kulturellen Konflikte zischen, egal wie wenig man der anderen Seite zuhört, in sozialer und verteilungspolitischer Hinsicht lassen beide die vielen ärmeren Wähler im Regen stehen.

      Herr Schroeder hat dies hier beispielhaft an der demokratischen Vizepräsidentin dargelegt.

      Übrigens ist dies ein alter Hut, daß weder die Roten noch die Blauen irgendetwas für echt soziale Politik übrig haben, die die Eliten etwas kostet. Seit den 70er Jahren und Ölpreiskrise, Stagflation, Hayek-Friedman ist das schon so.

      • @JK83:

        Ich glaube nicht, dass ich geschrieben habe, dass "nur Republikaner neoliberal sind" (oder sein können). Ein schwedischer Sprichwort sagt: "auch in der Hölle gibt es Stufen".



        Nach Nixon, Reagan, Busch I, Busch II und Trump erscheint es mir unverhältnismäßig und etwas kleinlich sich über die Vicepräsidentin Kamala Harris zu Stürzen und sie zu baschen.



        Ich sehe hier vielmehr ein Muster neoliberaler Taktik; auf andere zu Zeigen, damit es gar nicht auffallen soll, dass der eigene Politik um das vielfache schlimmer ist und penetrant Äpfel mit Birnen vergleichen.



        Das wird zum Schiessen auf Spatzen, während die Kamele in Reihen durchs Nadelrohr galoppieren.



        Mit Trump als ihr präferierter Frontmann haben die Republikaner für mich ihr wahres Gesicht gezeigt. Ich sehe da durchaus einen Unterscheid zwischen Republikaner und Demokraten. Was natürlich nicht heißt dass auch Kamala perfekt sein kann, wie keiner von uns.... Wer unschuldig ist werfe den ersten stein.

    • @Nilsson Samuelsson:

      Ganz so ist es nicht.



      Nach diversen Telefonaten mit Freunden in den USA (unterschiedliche Bundesstaaten), bestätigten mir diese genau das, was in dem taz Artikel über die Vize Kamala Harris geschrieben steht.



      Sie macht nichts. Man hört nichts. Man sieht nichts. Sie scheint unsichtbar....

      • @Maggies_Meinung:

        Ich kenne ja Ihre Freunde in den USA nicht. Wenn sie z.B. Republikaner:innen oder gar Trumpanhänger:innen sind, überrascht es mich nicht so sehr, dass sie Kamala Harris doof finden. Ihre Einschätzung wäre für mich dann auch kein lückenloser Beweis dafür "wie es nicht ist".

    • @Nilsson Samuelsson:

      @Samuelsson: Vielleicht sollten Sie lernen zu akzeptieren, dass nicht alle "neoliberalen" "Thinktanks" gleich "konservativ" sind (... oder würden Sie sich selbst als "konservativ" bezeichnen, nur weil sie offensichtlich auf dem "neoliberalen" Auge sehbeeinträchtigt sind?). Dann könnten Sie auch sehen, dass "neoliberale" "Thinktanks" kein Interesse an einer Abwertung von Kamila Harris haben.

      • @TobiasK:

        OK.. dazugelernt... Danke.



        Ja, ich bezeichne mich insofern als Konservativ, in dem ich and Werte wie soziale Gerechtigkeit und Schutz unserer Umwelt festhalte und sie gegen die entfesselte neoliberale Wirtschaftsdynamik für superreiche Eliten immer verteidigen würde.



        Eine Frage noch; Wie erkennen Sie dass "ich offensichtlich auf dem "neoliberalen" Auge sehbeeinträchtigt bin"?

  • Das Problem ist hier, dass die Demokraten eher eine weitere Legislatur Trump akzeptieren, als sich auch nur einen Millimeter hin zu einer sozialeren Politik zu bewegen. Das hat die Biden Regierung eindrucksvoll bewiesen. Stand jetzt, und ich sehe derzeit keinerlei kein Anzeichen, dass sich daran noch etwas ändert, ist Trump 2024 das Weiße Haus nicht mehr zu nehmen.

  • Was ist denn mit der TAZ los - sachliche Analysen über Identitätspolitik?

    Kurz nach der Wende hielten wir Menschen, die sich aufgrund ihrer Hautfarbe gruppieren, abgrenzen und Andersdenkende nicht nur verbal attackierten für rechte Spinner und - heute ist dieses Prinzip nicht nur Gesellschaftsfähig geworden, sondern wird durch Medien und Politik geradezu hoffiert. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die euphorische Wahlkampf-Berichterstattung der Zeit und FAZ über Kamilla Harris.

    • @Jörg Radestock:

      Die Biden-Regierung enttäuscht auf ganzer Linie. Haben sich die Lebensbedingungen der einkommensschwachen US-Bürger auch nur um ein Deut verbessert? Nein, eher verschlechtert. Und Chancengleichheit? So gar nicht..... Die gute Dame ist einfach nur auf den Zug mit aufgesprungen. Ich frage mich nun, was ist eigentlich für die benachteiligten Schichten in der USA besser, höheres Lebensniveau mit den Republikanern oder niedrigeres (jedoch politically correctes) mit den Demokraten. Wie schon Brecht sagte: erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.

      • @Leningrad:

        Ich nehme an, Sie hätten da lieber die Republikaner zurück? Oder haben wir uns hier alle zusammen in den Trollwald verlaufen?

        • @Nilsson Samuelsson:

          Was ich will, spielt überhaupt keine Rolle. Ich will - am liebsten - Friede, Freude, Eierkuchen. Ich kann mir allerdings solch eine Anschauung infolge meines Berufes und meines Verdienste leisten. Mir (ganz) wichtig ist jedoch, dass in den USA der wenig verdienende Bürger ein besseres Leben in Achtung führt, es keine von dem US-Imperialismus angezettelten Kriege gibt. Und da haben - meines Erachtens - die Demokraten unter dem "Nobelpreisträger" und der jetzigen Führungsliga auf ganzer Ebene versagt. Die Leute an Ort und Stelle werden dies bei den nächsten Wahlen sicherlich berücksichtigen.

          • @Leningrad:

            und....... nehme ich an; ihre unausgesprochene Empfehlung nach, die Republikaner wählen.... stimmts? Was wird aus Ihrer Sicht damit erreicht ?

            • @Nilsson Samuelsson:

              Ich als Nicht-Amerikaner empfehle gar nichts, das müssten die US-Amerikaner schon selbst machen. Ich habe nur einiges festgestellt. Mehr nicht.

              • @Leningrad:

                OK. Vielleicht finden ja die Amerikaner:innen den kürzeren Weg zum Frieden und Freude.