Demokratie sozialökologisch verteidigen: Ein Geist der Freiheit

Der Neoliberalismus ist nicht an allem schuld, sondern eine Diskursfalle. Über Philipp Lepenies’ Buch „Verbot und Verzicht“.

Olaf Scholz von schräg hinten, er hat den Kopf in die rechte Hand gestützt

Verfolgt auch Olaf Scholz jene „Politik des Unterlassens“, die Lepenies zu Recht anprangert? Foto: Michael Kappeler/picture alliance/dpa

Wir leben in einer Mediengesellschaft, in der Teile den Eindruck haben oder strategisch erwecken, dass Ordnungs- und Regulierungspolitik nicht legitim sind und Verbote Freiheitsberaubung. Die zentrale Behauptung des Politikwissenschaftlers Philipp Lepenies in „Verbot und Verzicht“: Dahinter steckt im Großen und Ganzen der Neoliberalismus.

Dessen Botschaft ist bekanntlich: Je mehr Markt und je weniger Staat, desto besser für alle. Dieses Denken hätten, strategisch geplant, seine Propheten Friedrich August Hayek und Milton Friedman hegemonial gemacht und das habe zu einer „Politik des Unterlassens“ geführt. Damit ist die Nicht-Klimapolitik der Merkel-Jahre gut beschrieben.

Philipp Lepenies: „Verbot und Verzicht. Politik aus dem Geiste des Unter­lassens“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 266 Seiten, 18 Euro

Aus dem Bürger wurde derweil ein Konsument, dessen Freiheit, Identität und Demokratieteilhabe sich im individuellen und ungestörten Konsum vollziehen soll. Verbot und Verzicht sind in dieser Perspektive freiheits-, identitäts- und demokratiefeindlich. Die Verkäufer des Neoliberalismus benutzen im Wesentlichen vier bewährte Rhetoriken gegen Verbote.

1. Sie erreichen nur das Gegenteil des Beabsichtigten. 2. Sie bringen eh nichts. 3. Sie bedrohen den Wohlstand, die Industrie und die „fleißigen Leute“ bzw. den „kleinen Mann“. 4. Sie sind Freiheitsberaubung durch einen Staat, der „bevormunden“ und ideologisch umerziehen will.

Das geschwächte Gemeinsame

Es ist eine Stärke von Lepe­nies, wie er Strategien und Floskel-Abc der liberalkonservativen oder auch sozialdemokratischen Politiker, Wissenschaftler und Leitartikler offenlegt. Er zeigt, wie die groß angelegte Werbekampagne der Neoliberalismus-Verkäufer und -Profiteure dazu beigetragen hat, Politik und das Gemeinsame zu schwächen.

Aber dieses Blaming des Neoliberalismus ist zu eindimensional und trifft jenseits des Finanzsektors längst nicht auf alle Politikbereiche zu. Außerdem wird heute weniger im Nationalstaat und prioritär in Brüssel reguliert, was sehr gern als Gängelung und Regulierungswahn beschrieben wird.

Aber von Anfang an: Der bundesdeutsche Nachkriegsstaat war zunächst ein stark regulierender, wirtschaftlich und vor allem gesellschaftlich. Das funktionierte in den frühen 70ern nicht mehr, erst revoltierte die Jugend gegen Unterdrückung einer autoritär organisierten Gesellschaft, dann geriet das „Wirtschaftswunder“ in seine erste große Nachkriegskrise. Die politische Antwort: „öffnender Liberalismus“ (Andreas Reckwitz). Weniger Regulierung, die Leute und Unternehmen mehr machen lassen.

Während der brutalst regulierte Sozialismus ökonomisch und moralisch pleiteging, haben die liberalen Öffnungen im Westen wie globalen Süden einen Zuwachs an verbessertem Leben gebracht. Lebenserwartung, Gesundheit, Wohlstand, Freiheit, Sicherheit – alles besser geworden. Nicht für alle, aber für sehr viele.

Auf- und Absteiger

Durch den sogenannten Paternoster-Effekt sind allerdings in den Industriegesellschaften die einen auf- und andere abgestiegen. Das ist der eine Grund, warum nun das Paradigma der Öffnung bis auf Weiteres an sein Ende gekommen ist, der andere und noch zentralere, weil jenseits allen ideologischen Streits: Der physikalischen Realität der Erderhitzung ist damit nicht zu begegnen. Der Markt kann aus sich heraus die sozialökologische Transformation zur postfossilen Gesellschaft nicht schaffen, weil das Problem für den Markt nicht existiert.

Es braucht neue Politik, die die Kosten dieser Erderhitzung einpreist und damit und mit anderen Instrumenten die Kräfte des Marktes für technologisch-ökologische Innovation entfesselt.

Zwar ist es richtig, dass die neoliberalen Verkäufer Verbote als Freiheitsberaubung politisch stigmatisiert und Konsum als Substitution etabliert haben, aber das ist nur die eine Seite.

Die gesellschaftliche Bewegung von 1968 war im Kern auch eine emanzipatorische Anti-Verbots-Initiative. Sex ohne Ehe, Homosexualität, Abtreibung – war ja alles verboten. „Wir haben uns befreit von Verboten“, sagt Daniel Cohn-Bendit, der die Revolte gegen den autoritären Staat auf den Barrikaden von Paris anführte. „Das waren nicht neoliberale Spindoktoren, das war in uns.“

Selbst Macron und Lindner sind umgeschwenkt

Mit der emanzipatorischen Individualisierung und all ihren großartigen Errungenschaften haben wir uns aber halt auch kulturell vom Gemeinsamen emanzipiert und befreit.

Wenn wir uns das Sprechen heute anschauen, so muss man den Neoliberalismus überhaupt nicht mehr rhetorisch bekämpfen. Selbst Macron und Lindner sind umgeschwenkt. Der Staat ist „der neue Superstar“ (Zeit), er soll jetzt alles richten. Und bezahlen soll er es auch. Aber womöglich irrt das linkssozialdemokratische Denken ja, in dem ja immer alles gut wird, wenn der Staat feste lenkt und sich Geld pumpt und dann verteilt, dass es nur so scheppert.

Sozialökologie, das Paradigma des 21. Jahrhunderts, ist etwas völlig anderes als Sozialdemokratie und auch Christdemokratie, weil die zentrale Frage nicht mehr lautet: Wie viel Umverteilung? Und auch nicht: Wie viel Staat? Die Fragen lauten: Was für ein Staat? Wo genau braucht es welche innovativen politischen Instrumente, um die Transformation der Wirtschaft voranzubringen?

Und da haben sowohl Armin Laschet als auch Olaf Scholz im Wahlkampf Slapstick-Antworten gegeben. Laschet wollte einfach warten, was den Unternehmern so einfällt, Scholz sagte immer nur: Mit mir keine Verbote. Beides ist genau jene „Politik des Unterlassens“, die Lepenies zu Recht anprangert.

Der legitime Merkel-Erbe

Aber sagte Scholz nicht auch: Mit mir Mindestlohn? Ja, sagte er. Das war im Hinblick auf eine verlorene SPD-Wählergruppe und ihre ökonomischen Probleme auch richtig. Aber mit beidem – Mindestlohn ja, „Verbote“ nein – hat Scholz klargemacht, dass er wirklich der legitime Merkel-Erbe ist, indem er die Krisen der Gegenwart sozial­verträglich moderiert, solange das eben noch geht, aber nicht mehr politisch überwinden will.

Vizekanzler Robert Habeck hat derweil in seinen Jahren als Parteivorsitzender maßgeblich für ein neues Grünes Grundsatzprogramm gesorgt, das den Staat rehabilitiert, aber eben nicht in der Endlosschleife der alten Bundesrepublik verharrt.

Will sagen: Lepenies’ Analysen können hilfreich sein, um den neuen Benzinpreis-Populismus zu verstehen und alles, was jetzt kommt, um mit Verbots- und Verzichtsrhetorik eine Mehrheitsgesellschaft zu verhindern, die Demokratie und Freiheit sozialökologisch verteidigt. Aber grundsätzlich muss man sich vor dieser Diskursfalle des Verbotsgeschwätzes hüten. Es gab immer Regulierung, es wird immer Regulierung brauchen.

Übrigens: Alle unsere beliebten Anti-Engagements (Anti-Neoliberalismus, Anti-Faschismus, Anti-Militarismus, Anti-Atomkraft usw.) greifen zu kurz, weil „Verhindern“ allein nicht reicht und keine innovativen Kräfte freisetzt. Das hört der Classic-Linke vermutlich nicht gern, aber der Fokus muss jetzt darauf liegen, die richtigen politischen Instrumente zu finden, damit aus unternehmerischer Wucht eine sozialökologische Wirtschaft entstehen kann.

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