Umgang mit Trauer: Deutschland, warum weinst du nicht?
Spanien weint gemeinsam um die Opfer der Überschwemmungen. In Deutschland gäbe es genug Gründe, gemeinsam zu trauern. Warum gelingt uns das nicht?
I n Spanien herrscht Staatstrauer. Nach den verheerenden Unwettern mit Starkregen und Überschwemmungen im Süden und Osten des Landes, die bereits knapp hundert Menschen das Leben und viele mehr ihre Lebensgrundlage gekostet haben, hat die spanische Regierung drei Tage Staatstrauer ausgerufen.
Ein Zeichen der Ehrerbietung für all jene, die durch die Naturkatastrophe Verluste erlebt haben. Ein nationaler Akt des Respekts, der Zusammenhalt demonstriert.
Symbolpolitik, die in keiner Weise ersetzt, was an Hilfe und Prävention geleistet werden muss, die aber dennoch ein positives Wir-Gefühl stärken kann.
Deutschland kennt so etwas nicht. „Das Institut der ‚Staatstrauer‘ gibt es in der Bundesrepublik nicht“, heißt es seitens des Innenministeriums. „Nicht zuletzt die föderale Struktur“ des Landes mache es unmöglich, „diese Form kollektiver staatlicher Trauer zu verordnen“. Klappe zu, Affe tot. Ende der Diskussion.
Wir haben Feiertage, die an historische Ereignisse und deren Opfer erinnern (zu Recht) oder nur bestimmte Teile des Lande betreffen, aber uns fehlt die Fähigkeit, gemeinsam innezuhalten und Trauer anzuerkennen, wenn sie akut ist.
Wir analysieren und denken – aber wir fühlen nicht
„Warum weinst du nicht, Deutschland?“, fragte die Journalistin Büşra Delikaya drei Jahre nach dem Terrorattentat in Hanau in einem Artikel. Dieselbe Frage hätte man auch nach Halle stellen können, nach dem Attentat in Berlin und unlängst in Solingen. Nach den Taten des NSU, dem Hochwasser im Ahrtal, der Pandemie, nach dem 7. Oktober bis heute und vielleicht zuallererst nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich attestierte der deutschen Bevölkerung eine kollektive „Unfähigkeit zu trauern“. Wir sind stolz darauf, dass wir dichten und denken, und auf deutsche Innovationen. Ich sage nicht, dass all das nicht wichtig ist. Es sind elementare Bestandteile der Handlungsfähigkeit. Dennoch muss Zeit sein für das gemeinsame Fühlen, um die Trauer verarbeiten zu können, damit sie sich nicht als Trauma manifestiert. Damit sie nicht in Affekten zutage tritt, die nach Schuldigen verlangen und uns dabei voneinander entfernen.
Aktuell findet in Mexiko der día de los muertos statt, bei dem jährlich der Toten gedacht, getanzt, gegessen, gelacht und geweint wird. So kann Trauer auch aussehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken