Umbau der Schulen in der Türkei: Mohammed statt Atatürk
Erdoğan setzt den Umbau der Türkei fort. An Schulen gilt künftig ein Lehrplan, der Kinder zu „nationalbewussten, gläubigen Patrioten“ heranziehen soll.
Seit Beginn des Schuljahres wird in der ersten Klasse, der fünften Klasse und der neunten Klasse quasi in einem landesweiten Feldversuch ein neuer Lehrplan getestet, der nichts weniger sein soll als ein „Bildungsmodell des türkischen Jahrhunderts“. Dieser neue Lehrplan soll neben praktischen Veränderungen vor allem die Jugend erziehen, und zwar zu „nationalbewussten, gläubigen Patrioten“, die „fleißig, bescheiden und familienbewusst“ sein sollen. Ausgerufen hat das türkische Jahrhundert vor einem Jahr Präsident Recep Tayyip Erdoğan anlässlich des 100. Jahrestags der Republikgründung am 29. Oktober 2023.
Entsprechend werden neue Lehrinhalte eingefügt und andere gekürzt oder ganz weggelassen. Religiöse Unterrichtung, die Geschichte des Türkentums und des Islam sowie die Worte des Propheten werden laut Bildungsministerium einen größeren Umfang als naturwissenschaftliche Fächer bekommen.
Die Geschichte der Republik hat das Ministerium dagegen zusammengestutzt, Mustafa Kemal Atatürk soll kaum noch vorkommen. Die Evolutionstheorie stellen die neuen Lehrinhalte zugunsten der göttlichen Schöpfung als Irrlehre dar oder sie wird gar nicht mehr unterrichtet. Um den SchülerInnen den neuen Lehrplan schmackhaft zu machen, werden die Anforderungen in Mathematik gesenkt und der Prüfungsdruck soll insgesamt reduziert werden.
Kampf um die Köpfe
Schon vor 15 Jahren hatte der heutige Präsident und damalige Ministerpräsident Erdoğan postuliert, unter seiner Regierung werde eine neue gläubige Generation heranwachsen. Da dies bislang nicht gelungen ist, will die regierende AKP jetzt noch einmal nachlegen.
Der Kampf um die Köpfe der Kinder wird von Erdoğan schon länger forciert. Bis in die nuller Jahre war das türkische Bildungssystem an säkularen europäischen Vorbildern orientiert. Da die staatlichen Schulen damals noch von republikanischen Lehrkräften dominiert waren, setzte die AKP darauf, parallel religiöse Schulen aufzuwerten. Die sogenannten Imam-Hatip-Schulen, ursprünglich Berufsschulen für Prediger, wurden zu Vollschulen hochgestuft. Ihre AbsolventInnen erhielten eine allgemeine Zugangsberechtigung zur Universität.
Die AKP steckte viel Geld in die Imam-Hatip-Schulen, wo der Unterricht geschlechtergetrennt stattfindet und die religiöse Erziehung viel Platz einnimmt. Doch der Andrang blieb geringer als erwartet. Die meisten Eltern wollten ihre Kinder lieber auf einer normalen staatlichen Schule anmelden.
Deshalb soll jetzt das gesamte staatliche Bildungssystem reformiert und nach den religiösen und ideologischen Vorstellungen der AKP umgeformt werden. Eine Voraussetzung dafür schuf Erdoğan 2016, als er AKP-kritische LehrerInnen im Zuge des erklärten Notstands nach dem Putschversuch 2016 suspendierte. Heute werden LehramtsanwärterInnen nicht nur auf ihre fachliche, sondern auch auf ihre politische „Eignung“ überprüft.
Ärmere Familien als Zielgruppe
Vom säkularen Teil der Gesellschaft kommt herbe Kritik an Erdoğans Schulplänen. Der Vorsitzende der linken Lehrergewerkschaft Eğetim-Sen, Kemal Irmak, schrieb in einem Rundbrief an die Gewerkschaftsmitglieder: „Das Türkische-Jahrhundert-Bildungsmodell (…) ist nichts anderes als die Rückkehr zur Kirchen- und Koranschulen-Erziehung des letzten Jahrhunderts.“ Mit dem von religiösen Stiftungen und Verbänden erstellten Programmen entferne sich das Bildungssystem rasch von den grundlegendsten wissenschaftlichen Prinzipien und einem säkularen Bildungsverständnis, schrieb er weiter.
Die Opposition befürchtet, dass Bildungsminister Yusuf Tekin sich von religiösen Sekten maßgeblich hat beraten lassen. So sagte der Vizevorsitzende des oppositionellen CHP, Suat Özcagdas, das neue Curriculum sei „unserem Land aufoktroyiert worden von Sekten und islamischen Gemeinden, die im Gewand von NGOs ihre religiösen und nicht zeitgemäßen Vorstellungen in den neuen Lehrplänen verwirklicht haben“.
Dafür spricht, dass Präsident Erdoğan den ihm nahestehenden islamischen Sekten immer mehr Geld und Gestaltungsspielraum gerade im Erziehungs- und Bildungsbereich zuspielt. Die religiösen Organisationen betreiben oft Internate, die vor allem Kinder aus ärmeren Familien besuchen.
Die Rückabwicklung der modernen säkularen Türkei hin zu den angeblichen Idealen des Islam und des Osmanischen Reiches hat Erdoğan nie aus den Augen verloren. Für die Zukunft löst das bei vielen säkular orientierten Bürgern große Ängste aus.
Der Chefredakteur des kleinen oppositionellen TV-Kanals Tele 1, Merdar Yanardağ, sagte in einem Kommentar: „Kein Land ist mit einer religiösen Erziehung vorangekommen, das kann man sich im gesamten Nahen Osten anschauen.“ Viele Eltern, die diese Meinung teilen und ihre Kinder dem staatlichen Bildungssystem nicht mehr aussetzen wollen, bleibt nun nur noch der Weg zu den Privatschulen. Doch die sind teuer, und nur wenige können sich diesen Ausweg leisten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste