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Ukrainischer Bürgerrechtler in Lwiw„Kiew hat keinen Einfluss mehr“

Alik Olisewitsch lebt in der Westukraine. Der Oppositionelle über den Alltag in Lwiw, rechte Kräfte, einbehaltene Steuern und warum der Staat nicht geteilt werden sollte.

Staatliche Strukturen funktionieren nicht mehr – Barrikaden in Lviv. Bild: dpa
Thomas Gerlach
Interview von Thomas Gerlach

Herr Olisewitsch, Sie leben in Lwiw, wie ist die Lage in der Stadt?

Alik Olisewitsch: Es ist ruhig und die Geschäfte sind offen. Aber die Polizei ist komplett abgetaucht. Selbst die Notrufnummer funktioniert nicht mehr.

Und wer kontrolliert jetzt die öffentliche Ordnung?

In Lwiw gibt es sechs Stadtbezirke und in jedem Bezirk ein Verwaltungsgebäude. Diese Gebäude sind inzwischen alle von Oppositionellen besetzt und dort haben sich die Bürgerwehren gebildet. Sie patrouillieren mit Autos, mit Fahrrädern und zu Fuß. Sie sollen verhindern, dass Marodeure die Straßen unsicher machen.

Sind sie bewaffnet?

Sie haben Knüppel, Reizgas, vielleicht auch Handschellen, aber keine Feuerwaffen.

Gibt es Marodeure?

Es gibt die sogenannten Tituschki, vom Regime gedungene junge Leute, die äußerst gewaltbereit sind. Solche Tituschki wurden aus der Ostukraine nach Lwiw geschickt. Es sind eigentlich Studenten der Universität des Innenministeriums aus Charkiw. Ihr Auftrag ist, die Lage in der Stadt zu destabilisieren.

privat
Im Interview: Alik Olisewitsch

,geboren 1958 in Lviv, ist Bürgerrechtler, engagiert sich bei Amnesty International und ist einer der bekanntesten Vertreter der sowjetischen Hippiekultur in der Breschnew-Ära. Er arbeitet als Techniker im Opernhaus von Lviv.

Ist es dazu gekommen?

Am Dienstag zogen hunderte Jugendliche vor einen Supermarkt, dessen Besitzer der Janukowitsch-Partei angehört. Sie wollten ihn anzünden. Da haben sich Leute von der Bürgerwehr dazwischengestellt. Die Anstifter dieser jungen Leute haben bestes Russisch gesprochen. Die waren nicht von hier. Das waren Provokateure. Sie sollten einen Anlass zum Eingreifen liefern.

Funktionieren die staatlichen Strukturen überhaupt noch?

Da funktioniert gar nichts mehr. Die Stadtbezirksverwaltungen sind alle besetzt. Die Gebietsverwaltung ist besetzt, die Staatsanwaltschaft ist verwüstet, die Vertretung des Innenministeriums auch. In der Hauptverwaltung der Polizei hat es gebrannt und der Gouverneur, ein von Janukowitsch eingesetzter Mann ist abgetaucht. Kiew hat keinen Einfluss mehr auf die Westukraine.

Bildergalerie

Bilder zur aktuellen Lage in Kiew in unserer Bildergalerie.

Ist etwas an die Stelle der alten Strukturen getreten?

Zum einen funktioniert noch die Stadtverwaltung. Der Bürgermeister ist ein guter Mann. Und seit etwa drei Wochen gibt es die Narodnaja Rada, die Volksversammlung. Das ist ein Gremium, in dem Vertreter von Parteien, Organisationen und Gruppierungen entsandt wurden.

Wie arbeitet die Versammlung?

Das ist eine Art runder Tisch, der berät und Entscheidungen trifft, und das alles transparent macht. Die Volksversammlung kooperiert auch mit dem Parlament der Gebietsverwaltung, das es auch noch gibt und das akzeptiert ist, denn deren Vertreter sind frei gewählt.

Haben sie schon Beschlüsse gefasst?

Sie haben beschlossen, dass keine Steuern mehr nach Kiew fließen. Die Steuern, die im Gebiet Lwiw aufgebracht werden, hier leben etwa 3 Millionen Menschen, bleiben hier im Gebiet.

Wie verhalten sich die rechten Kräfte, die es in der Stadt gibt?

Beim Sturm auf die Gebietsverwaltung hat sich die Partei Swoboda hervorgetan. Einfache, normale Leute, keine Rechten, haben das Gebäude gestürmt. Angeführt wurden sie aber von Radikalen von Swoboda. Und daneben gab es noch autonome rechte Gruppen, Jugendliche, Studenten, die regelrechte Sturmgruppen bilden. Ich würde sie als unorthodoxe Rechte bezeichnen, während die Leute von „Swoboda“ eher orthodoxe Rechte sind.

Sie kooperieren untereinander?

Nein, sie streiten sich. Als die Gebietsverwaltung dann erstürmt war, besetzte Swoboda drei Etagen, und die jungen Rechten eine weitere. Und dann haben sie handfesten Streit gehabt. Und die einfachen Leute, die das mitbekommen haben, sagten: was seid ihr denn für Patrioten?

Beobachten Sie eine Radikalisierung?

Von Lwiw sind seit Ende November ganz viele Unterstützer zum Maidan gefahren. Manche waren nur einige Tage dort, andere länger – je nachdem, wie viel Zeit sie hatten. Und sie kamen alle begeistert zurück und haben von der Stimmung und dem Menschen geschwärmt. Das ist vorbei. Wer jetzt fährt, nimmt Waffen mit.

Und in Lwiw?

Anfang der Woche sind 130 Polizisten der Berkut-Sondereinheiten von hier nach Kiew ausgerückt. Am Mittwochabend gab es auf die Kaserne einen Sprengstoffanschlag, bei dem zwei Polizisten starben. Waren es Provokateure? Waren es Oppositionelle? Keiner weiß es.

Jetzt wird bereits von der Teilung der Ukraine geredet. Wäre das eine Lösung?

Das ist eine riesige Gefahr. Die Ukraine muss ein einiger Staat bleiben. Eine Aufteilung der Ukraine wollen nur radikale Nationalisten, dazu kommen Politiker und Abgeordnete aus den Gebieten Charkiv, Donezk, Luhansk im Osten des Landes und Separatisten von der Krim.

Die Gewalt spielt ihnen in die Hände?

Natürlich, denen kommt das zupass, nach dem Motto: Wenn ihr das im Kiew nicht in den Griff bekommt, dann machen wir unser eigenen Staat und Charkow wird wieder die ukrainische Hauptstadt, wie sie es in den zwanziger Jahren war. Diese Funktionäre wollen einfach nicht, dass es im Osten so liberal zugeht wie in Lwiw. Sie wollen das so wie in Russland haben und verstehen nicht, dass die Menschen darauf keine Lust haben. Wir wollen nicht in einem großen Gulag leben.

Was halten Sie von der berichteten Einigung, die in Kiew erzielt worden sein soll?

Das alles ist im Prinzip nicht schlecht. Aber lassen sich die unterschiedlichen Gruppen auf dem Maidan, insbesondere die Rechten, darauf ein? Es steht 50 zu 50.

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8 Kommentare

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  • Rechtsradikale Bewegungen haben in der Westukraine faktisch die Macht übernommen und streiten sich jetzt untereinander. Das ist also das Resultat der ‘‘Revolution‘‘??

  • HS
    Hari Seldon

    "Kiew hat keinen Einfluss mehr": OK, Jungs und Mädels, dann sollten die "Bürgerrechtler" die Rechnungen selber bezahlen und auch die Weltmarktpreise für Gas. Mal sehen, wie lange die "Bürgerrechtler" ausharren können. Schröder ist nicht dumm, wenn er sagt, dass Ukraine als Einheit erhalten müsste. Der Nutznießer der Aufspaltung wäre Russland: Der besser gestellte Teil am Osten würde zu Russland überlaufen, und den Faß ohne Boden am Osten kann die EU finanzieren.

  • T
    toddy

    halten wir mal fest Lwiw zahlt keine Steuern mehr, die gewählte Regierung wurde vertrieben die Partei verboten, Faschisten streiten sich bereits um die Macht, Militärstrukturen wurden zerstört - klar Lwiw ist endlich „Lemberg“ wie zu faschistischen Zeiten und ist bereits aus der Ukraine ausgetreten auch wenn "Jesus" natürlich Angst hat das diese unproduktive Bauern und Faullenzer Gesellschaft ohne Unterstützung jämmerlich zu Grunde geht. Die regionale Bevölkerung soll entscheiden welcher Weg ihrer Entwicklung zuträglich ist die Krim wurde zB von Chrustschov der Ukrainischen Sowjetrepublik administrativ zugeordnet und nicht Galizien geschenkt. Pech für die religiös faschistischen Faulpelze ...

  • L
    Lana

    Die wirtschaftlich starke Krim ist Russland zugewendet. Die Menschen die ich dort kenne, bezeichnen sich sowohl als ukrainisch, als auch russisch. Wenn der Westen der Ukraine sich abspalten will, sehe ich ein ziemliches Problem auf die EU zukommen, denn sie erwaten ja die Hilfe eben dieser. Die nationalistischen bis rechtsextremen Kräfte dort sind kaum politisch handlungsfähig und es wird teuer diese Region aufzupeppeln. Und wer lacht sich ins Fäustchen?! Russland. Wann endlich wird die Ukraine mehr als nur ein Puffer, oder "Schachbrett", wie Steinmeier es ausgedrückt hat? Es ist eine Tragödie.

  • VH
    Vom Hippie zum...

    "Aber lassen sich die unterschiedlichen Gruppen auf dem Maidan, insbesondere die Rechten, darauf ein?"

     

    Das ist der entscheidende Punkt, dass ist euer "Liberalismus".

  • A
    Arne

    Falsche Artikelüberschrift.

     

    Er sagt nicht, was gegen eine Teilung der Ukraine spricht. Er sagt nur, das sei eine "riesige Gefahr". Für wen?

     

    Wenn sich eine Mehrheit mal Russland schließen will, dann haben auf einmal alle diesen von ihm behaupteten "riesiegen Gulag". Ist die jetztige Situation der Ukraine nicht eine größere Gefahr? Warum fragt da keiner nach, wenn jemand so larifari daherredet. Es muss doch irgendwas substanzielles dahinter stecken, wenn die Menschen keine Trennung wollen der verfeindeten Gebiete.

  • S
    selbstorganisation

    ich lese nirgendwo in den größeren medien berichte über die vorgänge dort

  • S
    selbstorganisation

    und was ist mit bosnien?