Überwachung durch Staatstrojaner: Nicht mehr nur Gott sieht alles

Mit dem neuen Gesetz zum Einsatz von Staatstrojanern schafft sich der Staat Möglichkeiten umfassender Überwachung. Entkommen ist kaum noch möglich.

Illustration Hammer, Apfel und zerschlagenes Handy

Dein Handy sieht alles Foto: Illustration Jeong Hwa Min

Noch im Halbschlaf griff ich heute früh nach dem Handy und las wie jeden Morgen die Nachrichten. Meine Frau Anni folgte mir schlurfend zur Espressomaschine, die Augen ebenfalls auf ihr Handydisplay gerichtet, als ich abrupt stehenblieb und flüsterte: „Wir müssen über die Digitalisierung und Überwachung schreiben!“ Sie sah mich entsetzt an: „Warum flüsterst du?“

„Weil wir ab jetzt in einem Überwachungsstaat leben.“

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Was klingt wie der Anfang eines dystopischen Thrillers, ist leider Realität. Staatstrojaner sind nichts Neues, das Bundeskriminalamt darf sie seit 2009 unter anderem zur Prävention von Terroranschlägen nutzen. Dafür brauchte es bisher einen richterlichen Beschluss – jetzt nicht mehr. Was in Hamburg bereits seit 2019 erlaubt ist, gilt bald für die Geheimdienste aller Bundesländer, für das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), den Auslandsgeheimdienst BND und den Militärgeheimdienst MAD.

Horst Seehofer beschreibt das Gesetz als „überfälligen Schritt im Kampf gegen Terroristen und militante Extremisten.“ Doch wer kontrolliert das BfV, wenn ich unwissentlich mit einer verdächtigen Person Kontakt habe und einfach mal „zur Sicherheit“ angezapft werde? Das Programm darf zwar nur zur „Überwachung der laufenden Kommunikation“ angewendet werden, obwohl es technisch dazu in der Lage ist, alle Daten auszulesen. Ob sich die Nachrichtendienste daran halten, soll der neue „Unabhängige Kontrollrat“ prüfen. Der ist so unabhängig, dass er sich ans Bundeskanzleramt wenden muss, bevor er den Bundestag kontaktiert.

Das dabei absolut beschissene Timing der Bundesregierung sät in mir Zweifel, ob nicht ein Ausnahmezustand genutzt wird, um unbemerkt tiefgreifende gesellschaftliche Änderungen vorzunehmen, und erinnert mich an das, was Rahm Emanuel, neoliberaler Stabschef von US-Präsident Barack Obama, einmal gesagt hat: „Verschwende niemals eine Krise – sie ist die Gelegenheit, Dinge zu tun, von denen man dachte, man könne sie nie tun.“

„Gott sieht alles“, habe ich als Kind oft gehört und bin sicher, dass auch andere Kinder sich gefürchtet haben, wenn sie etwas vermeintlich Falsches bloß gedacht haben. So fühle ich mich jetzt. Allein das Wissen um die Möglichkeiten, die der Staat sich jetzt geschaffen hat, macht alles Gedachte, Gesagte und Geschriebene gefühlt öffentlich. Nichts bleibt mehr im Verborgenen.

So sind wir gefangen – im eigenen Kopf. Gedanken isoliert. Nie ausgesprochen. „Die Gedanken sind frei!“ Das war einmal. Angst wird unser ständiger Begleiter. Schreibende bringen ihre Quellen in Gefahr, wenn sie sie digital kontaktieren, und sensibles Material wird besser handschriftlich … o Gott. Nicht die Regierung muss uns überwachen, sondern wir die Regierung. Das sind wir der Geschichte schuldig.

Auf der Toilette höre ich jetzt die Protestlieder von Bob Dylan. Ganz laut. Mein stiller Protest auf dem stillen Örtchen. Weil mich der Gedanke, dass der Staat mir beim Kacken zuhört, nicht loslässt und ich keine Verstopfung kriegen möchte. Ich lege bei jeder Gelegenheit das Telefon weg. Ich fühle mich kriminalisiert. Ich lasse es, wenn möglich, zu Hause, damit niemand meine Bewegungen verfolgen kann.

Die aktuelle Maskenpflicht würde mir helfen, mich vor den Kameras unerkannt draußen zu bewegen, gäbe es nicht längst Programme, die mich am Gang erkennen. Freunde reden mit mir verklausuliert, und ich erwische mich dabei, dass ich lieber meinen Mund halte, bevor ich etwas sage, was mir vielleicht in ein paar Jahren zum Vorwurf gemacht wird. Beim Sex überlege ich, ob ein Handy unterm Bett liegt und ein schmieriger BND-Mitarbeiter seinen Arbeitsplatz gerade ganz angenehm findet.

Das alles erzeugt das Gefühl, zwischen der analogen und digitalen Welt eingeklemmt zu sein. Gefangen im Spannungsfeld zwischen dem zutiefst menschlichen Begehren, Teil des sozialen Lebens zu sein und mich der totalen Überwachung zu entziehen. Ein Großteil der sozialen Kommunikation findet nun mal im Netz statt.

Klar kann ich mich überall abmelden. Aber das käme einem Sichbeugen vor einem unsichtbaren Gegner gleich und einer Kapitulation vor meinem Selbstverständnis als gestaltendes Mitglied der Gesellschaft. Dieser Zustand erzeugt Ohnmacht und ist vielleicht ein Grund für den ausbleibenden Protest. Unsere innere Stimme sagt, dass wir uns wehren müssen, und eine andere, fremde Stimme, lacht uns aus: „Nur zu, du Opfer. Wir sehen und hören dich sowieso.“

Um diese Zerrissenheit nicht zu fühlen, müssen wir verdrängen. Nur dass auch das Unterbewusstsein längst kein sicherer Ort mehr ist. Unser Verhalten im Netz ist so entlarvend, dass ein Algorithmus schon vor mir weiß, ob ich Hunger oder Durst habe oder schwanger bin. Ich spüre, wie die analoge immer mehr mit der digitalen Überwachung verschmilzt, wenn ich über Spaghetti spreche und die entsprechende Werbung fast in Echtzeit über den Monitor huscht.

Ich kann nicht mehr entkommen. Die Überwachung ist längst lückenlos. Ich bin umgeben von Tausenden Mikrofonen meiner Mitmenschen, die meine Stimme aufzeichnen, damit ein Programm sie herausfiltern kann. Ich flüstere also nur noch. Nein, ich bleibe still. So wie wir alle gerade still bleiben, und allein das Wissen um die Möglichkeiten der Überwachung erstickt jeden kritischen Gedanken bereits im Kopf. Und aus diesen nicht vorhandenen Gedanken können keine Worte entstehen und aus nicht gesprochenen Worten resultiert schließlich Tatenlosigkeit.

Ich will hier weg. Doch selbst das Fluchtauto will dieser Tage gut gewählt sein. Sind doch alle modernen Fahrzeuge mit einer Blackbox ausgerüstet – die übrigens ab 2024 in der EU Pflicht ist. Auch sie dient, natürlich, unserer Sicherheit, soll sie doch im Falle eines Unfalls zu dessen Aufklärung beitragen.

Wo die gesammelten Daten zwischenzeitlich landen und wer sie einsieht? Keine Ahnung. Auch meinen Beruf als Schriftsteller muss ich wohl bald an den Nagel hängen, wo doch elektronische Lesegeräte mein Leseverhalten analysieren, um mit diesen Daten eine KI zu füttern, die künftig auf mich zugeschnittene Bücher schreibt.

Jetzt bekommt also jeder seine eigene Welt mit seinem eigenen Gott. Sie ist sie perfekt an unsere Bedürfnisse angepasst. Und kein Kain kann Abel mehr erschlagen und auch Plagen stellen keine Gefahr mehr dar. Wenn wir keinen physischen Kontakt mehr haben, dann sind wir ganz sicher. Dann kann uns nichts mehr geschehen. Wo kein Leben mehr ist, kann schließlich auch keines mehr in Gefahr geraten.

„Die Gedanken sind frei!“ – Das war einmal. Angst wird unser ständiger Begleiter

Konzerne arbeiten schon lange an der Erschaffung dieser Blasen, in die sie uns einzeln verpacken wollen und die das als Paradies verkleidete Zuhause zu einer Zelle machen. Jetzt hat der Staat entschieden, sich am Bau dieser Millionen von Zellen zu beteiligen. Und so entsteht ein Gefängnis, bei der die einzige sinnliche Erfahrung unsere Fingerkuppen mit der Tastatur machen dürfen. Die wird aber auch bald Vergangenheit sein.

Anni reicht mir einen Apfel. Seit sie schwanger ist, hat sie unbändige Lust auf die verbotene Frucht: „Lass uns die Kerne in die Erde pflanzen, damit ein Baum der Erkenntnis daraus wächst, dessen Früchte unsere Tochter später einmal ernten kann.“ Ich bin völlig fertig. Und dennoch ist da Hoffnung. Der Staat will mich zwingen, ein braver Bürger zu sein, damit ich existieren kann. Aber ich möchte kein braver Bürger sein, kein betäubter Gefolgsmann. Das bin ich meinen Töchtern schuldig. Das sind wir der nächsten Generation schuldig.

Ich klappe jetzt den Rechner meines Laptops zu. Wenn die im Rahmen der Recherche für diesen Artikel besuchten Webseiten mit einer ungewöhnlich hohen Dichte an „kritischen“ Suchbegriffen dazu führen, dass irgendein Geheimdienst mich jetzt auf dem Schirm hat – da scheiß ich drauf. Anni sagt: „Bitte doch die Leser und Leserinnen, den Artikel laut im Netz vorzulesen. Das wäre doch ein Anfang, oder?“ Finde ich auch. Ende.

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