Überfall auf die Sowjetunion: Patriotismus und Propaganda
Russland und die Ukraine streiten um die Deutung des Zweiten Weltkrieges. Beide Länder begehen den 22. Juni mit unterschiedlichem Fokus
Allein in Moskau sind über tausend Gedenkveranstaltungen geplant. Zuerst wird um vier Uhr morgens ein Kranz am Grabmal des unbekannten Soldaten im Alexandergarten am Kreml niedergelegt. Dann bringen Regierungsvertreter Blumen zum Kriegsmuseum.
Galina, 1932 in St. Petersburg geboren, will den Tag anders begehen: „Ich singe mit meinen Kindern Lieder aus der Zeit des Krieges, dann besuchen wir das Grab meines Vaters.“ An die weinenden Gesichter ihrer Klassenkameradinnen, deren Väter an der Front gefallen waren, kann sie sich gut erinnern. Eine zentrale Veranstaltung will sie nicht aufsuchen. „Dieses Patriotismusgerede ist doch verlogen.“
Erst vor wenigen Tagen sei für den finnischen Feldmarschall und früheren Präsidenten Carl Mannerheim eine Gedenktafel in der Sankt Petersburger Militärakademie angebracht worden – im Beisein eines Vertreters des russischen Präsidenten. „Der hat Truppen befehligt, die Leningrad eingeschlossen und eine Hungerkatastrophe ausgelöst haben. Wie kann man diesem Mann in dieser Stadt und vor dem 75. Jahrestag so eine Ehrung zukommen lassen?“
Ukrainische Perspektive
Mehr noch als die Russen haben Ukrainer und Belorussen gelitten. Gleich zu Kriegsbeginn wurden Kiew und Sewastopol bombardiert, 250 ukrainische Dörfer dem Erdboden gleichgemacht, das gesamte Staatsgebiet wurde besetzt. 80 Prozent aller nach Deutschland deportierten Sowjetbürger waren laut Internetportal dozor.kharkov.ua Ukrainer. Jeder fünfte habe sein Leben im Krieg verloren. Seit 2000 ist der 22. Juni in der Ukraine staatlicher Gedenktag.
In der separatistischen „Volksrepublik Lugansk“ organisiert die „Bewegung Frieden für das Gebiet Lugansk“ Gedenkveranstaltungen zum Jahrestag des „Großen Vaterländischen Krieges“. Die Kiewer Zentralregierung vermeidet diesen Begriff: Er sei eine Erfindung der sowjetischen Propaganda, der von dem heutigen Russland übernommen worden sei, schreibt die Stiftung Nationales Gedächtnis, die als Thinktank der Regierung in Kiew gilt, auf ihrer Homepage.
Das heutige Russland reiße das Gedenken an die Opfer des ganzen Zweiten Weltkriegs an sich. Dabei sei der 22. Juni der Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges gewesen, während der Weltkrieg bereits 1939 begonnen habe. Bereits im September jenes Jahres seien 8.000 Ukrainer als Angehörige der polnischen Armee gefallen, so das ukrainische Internetportal likbez.org.ua.
Die Beteiligung ukrainischer Nationalisten an Massakern an der polnischen Zivilbevölkerung in Wolhynien, lange ein Tabuthema, wird heute öffentlich diskutiert. In einem offenen Brief an die polnische Gesellschaft baten kürzlich führende Ukrainer um Vergebung für die Verbrechen. Auch die früheren ukrainischen Präsidenten Leonid Krawtschuk und Viktor Juschtschenko, sowie Patriarch Filaret, gehören zu den Unterzeichnern.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Trump und die Ukraine
Europa hat die Ukraine verraten
Social-Media-Star im Bundestagswahlkampf
Wie ein Phoenix aus der roten Asche
Krieg und Rüstung
Klingelnde Kassen
Gerhart Baum ist tot
Die FDP verliert ihr sozialliberales Gewissen
Münchner Sicherheitskonferenz
Selenskyjs letzter Strohhalm