US-Proteste gegen Israel: Juden gegen den Gaza-Krieg

In New York demonstrieren junge Juden für den Frieden. Sie distanzieren sich von den traditionellen jüdischen Organisationen.

Die jüdischen Demonstranten in New York sind entsetzt über das, was sie das „Versagen der jüdisch-amerikanischen Organisationen“ nennen. Bild: Dorothea Hahn

NEW YORK taz | „Zieht etwas Schwarzes an“, steht auf der Einladung bei Facebook. Bei Einbruch der Dunkelheit sitzen mehr als hundert junge Leute auf dem warmen Asphaltboden vor dem Eingang zum Prospect Park. Um sie herum strömt der abendliche Berufsverkehr über die breiten Straßen.

Es ist heiß in New York. Unter den schwarzen Oberteilen lugen Minihosenröckchen, Shorts und Sandalen hervor. Juden in aller Welt begehen Tischa be Aw – einen besonders traurigen Gedenktag, der an Zerstörungen und Vertreibungen erinnern soll. In Washington unterschrieb der US-Präsident derweil ein Gesetz über 225 Millionen Dollar zusätzliche „Notmilitärhilfe“ für Israel.

New York ist die nach Tel Aviv zweitgrößte jüdische Stadt der Welt. Doch in der einst bedingungslose Unterstützung der 1,1 Millionen Juden in der Stadt für die israelische Regierung zeichnen sich tiefe Risse ab. Neben Friedensdemonstrationen von jüdischen und palästinensischen Gruppen, die gegen den Krieg in Gaza demonstrieren, tauchte die neue Gruppe IfNotNow auf. Sie veranstaltet Kaddisch-Trauergebete für die Opfer beider Seiten.

Sie gedenken der Opfer

Sarah Kaplan Gould stützt sich auf einen türkisfarbenen Fahrradhelm. Direkt neben ihr steht eine junge Frau und liest aus den Klageliedern vor. Die Stehende bewegt ihren Körper vor und zurück. Ein junger Mann löst sie ab. Sie sprechen und singen abwechselnd auf Hebräisch und auf Englisch. Es geht um Trauer, um Wut und um Empörung. Am Ende verlesen die Sprecher 177 Namen. Die Runde spricht sie im Chor nach. So gedenken sie der Opfer des zurückliegenden Wochenendes in Gaza – der Palästinenser und der Israelis.

Die 23-jährige Sarah Kaplan Gould ist entsetzt über das, was sie das „Versagen der jüdisch-amerikanischen Organisationen“ nennt. Über deren kritiklose Unterstützung für Israel. Sie prangert die institutionellen Freunde Israels in den USA an: die Organisation AIPAC (American Israel Public Affairs Committee), die christlichen Zionisten bis hin zur Rüstungsindustrie und zur US-Regierung. Sarah Kaplan fordert eine Verhandlungslösung im Nahen Osten. „Dies hier ist der einzige Ort, an dem ich sowohl meine Wut als auch meine jüdische Identität leben kann“, sagt die junge Dichterin.

Kaplan steht für die Suche nach neuen Ausdrucksformen für linke Juden in den USA. Es ist das Problem einer Generation, die mit Israel als Besatzungsmacht aufgewachsen ist und die zuletzt im Zweijahresrhythmus israelische Militäroperationen in Gaza erlebt hat. Die jungen Leute, die an diesem Sommerabend auf dem Asphalt in Brooklyn sitzen, gehören zu der nachwachsenden Elite der US-amerikanischen jüdischen Gemeinschaft. In ihrer Erziehung waren jüdische Werte – religiöse und kulturelle – wichtig.

„Wir sind gefangen“

Sie haben Schulen und Jugendgruppen besucht, die zur „Community“ gehören. Manche betreuen als Erwachsene zionistische Jugendliche bei Freizeitaktivitäten. Viele haben Hebräisch gelernt, nahmen an den 10-tägigen „Birthright“-Reisen teil, mit denen Israel sich der Unterstützung des Nachwuchses aus den USA zu versichern sucht. Viele ihrer Verwandten leben in Israel. Aber ihr Verhältnis zu dem Staat und ihr Verhältnis zu den jüdischen Institutionen in den USA ist anders als das vorausgegangener Generationen.

Die 33-jährige Carinne Luck arbeitete in Washington und New York für „J Street“. Die liberale jüdische Organisation versucht bereits seit 2008, Israel zum Stopp des Siedlungsbaus und zu diplomatischen Lösungen zu bewegen. Luck stammt aus einer zionistischen Dynastie und lebt sei 14 Jahren in den USA. Ihr Urgroßvater zog Ende des 19. Jahrhundert nach Palästina. „Wir haben eine tiefe Verbindung zu unserem Jüdischsein“, sagt sie, „aber wir sind weniger in der Tragödie des Holocaust und seinen Folgen gefangen.“

Ihre politischen Adressaten sitzen in New York und Washington. Die jungen Leute wollen das Monopol der Organisationen brechen, die für sich beanspruchten, stellvertretend für die jüdische Gemeinde sprechen zu können. Sie wollen den unterschiedlichen jüdischen Positionen in den USA Gehör verschaffen.

„Die jüdische Community muss nicht mit einer Stimme sprechen“, sagt Luck. „Wann, wenn nicht jetzt“, nennt sich die Gruppe, die nach dem Beginn der Bombardements im Juli entstanden ist: „#IfNotNow“ ist ihr Erkennungszeichen bei Facebook und im Internet (ifnot.net). Alle zwei oder drei Tage spricht sie ein Kaddisch unter freiem Himmel an verschiedenen Orten in New York. Teilnehmer verlesen die Namen einiger Hundert Toter von beiden Seiten. Sie sprechen sich gegenseitig Mut zu. „Wir können nicht ruhen, bevor die Gewalt in Gaza, im Westjordanland und in Israel aufhört.“ „Wir können nicht ruhen, bis es Freiheit und Würde für alle gibt.“ Solche Sätze wiederholt die gesamte Gruppe. Die Technik des „menschlichen Mikrofons“ stammt aus der Occupy-Bewegung. Sie ersetzt das Megafon.

Manche sagen, sie seien geschichtsvergessen

In nur zwei Wochen Existenz hat IfNotNow bereits vier Kaddisch-Aktionen in New York organisiert, wobei die Teilnehmerzahl langsam wächst. In mehreren anderen Städten der USA – Boston, Washington und Atlanta – haben Initiativen die „Kaddisch-für-Gaza“-Idee übernommen und ihrerseits bereits Zeremonien abgehalten. Während andernorts auf Demonstrationen, die Israel kritisieren, mit Gegensprechchören und -transparenten reagiert wird, erregen die religiös anmutenden Versammlungungen von IfNotNow Neugierde, mitunter aber gar Ehrfurcht. Niemand ruft dazwischen, niemand hupt, wenn die jungen Leute beten.

Dennoch erfordert das Kaddisch für Gaza auch Mut. Manche Teilnehmer berichten, dass Studienkollegen sie als „Juden mit Selbsthass“ bezeichnet haben und ihre Ideen „selbstgerecht“ und „selbmörderisch“ nannten. Manche sagen, sie seien geschichtsvergessen. Der 24-jährige Daniel, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte, kennt das Gefühl, das dahintersteckt. „Wenn wir Israel kritisieren, ist die Angst da, die Büchse der Pandora zu öffnen.“

Am Rande eines Kaddischs auf dem Washington Square erzählt ein 29-jähriger Mann, in seiner Familie versuche er gar nicht erst, über den Krieg in Gaza zu diskutieren. „Das gäbe nur Streit“, sagt er. Seit einer Begegnung mit palästinensischen Kollegen hat er selbst erste kritische Gedanken zur israelischen Palästinapolitik entwickelt. Seine Eltern kamen in den 1970er Jahren in die USA. Wie die Mehrheit der aus der Sowjetunion eingewanderten Juden haben sie in dem neuen Land die Ränge der konservativen Freunde Israels verstärkt.

Auch die Organisatoren des Kaddischs nehmen ihrerseits für sich in Anspruch, für weite Teile der jüdischen Community zu sprechen. Dabei kann IfNotNow bei Weitem nicht mit den 10.000 Demonstranten mithalten, die Ende Juli mit dem Slogan „New York stands with Israel“ vor die UN gezogen waren. Der 22-jährige IfNotNow-Organisator Yonah Lieberman sagt: „Es ist extrem schwer, gegen Israel aufzustehen – aber es muss getan werden.“

„Konferenz der Präsidenten“

Mit ihrem ersten Kaddisch für die Opfer von Gaza hat IfNotNow von Anfang an nach ganz oben gezielt: Am 24. Juli versammelten sich mehrere Dutzend ihrer junge Anhänger vor dem Sitz der „Konferenz der Präsidenten“ in Manhattan, des größten Dachverbands jüdischer Organisationen in den USA. Sie beklagten die Opfer beider Seiten, verlasen Namen und legten Steine auf den Asphalt. In einem offenen Brief an den Dachverband verlangten sie, dass er für die Beendigung der Bombardements eintritt. Dann blieben neun Kaddisch-Teilnehmer so lange in der Lobby des Verbandes sitzen, bis sie von der Polizei abgeführt wurden.

Anruf beim Dachverband: „Meinen Sie Proteste für Israel oder gegen Israel?“, fragt die Dame am Telefon. Dann stellt sie weiter an Malcolm Hoenlein. Bei diesem Mann laufen seit 1986 sämtliche Fäden der „Konferenz der Präsidenten“ zusammen. Malcom Hoenlein hat mit Generationen von israelischen Premierministern, US-amerikanischen Präsidenten und arabischen Potentaten an einem Tisch gesessen. Er nennt die Kaddisch-Gruppe „marginal“. Er wirft ihr „Einseitigkeit“ vor. Unterteilt die jungen Leute in „Fehlgeleitete“ und „solche, die die Situation ausnutzen“. Hoenlein bezweifelt auch, dass manche von ihnen aus zionistischen Organisationen kommen: „Haben Sie das überprüft?“, fragt er.

Den Generationenkonflikt im Inneren der US-amerikanischen jüdischen Gemeinschaft zum Nahen Osten hält er für ein Übergangsphänomen: „Wenn sie älter werden, kommen sie zurück.“ Doch es gibt auch bei den Protestierenden Ältere. Eine von ihnen ist Donna Gould. Sie wurde 1933 in York geboren. Noch als kleines Kind in einer jüdischen Familie lernte sie während des Zweiten Weltkriegs in New York, dass Palästina ein leeres Land sei, dass auf jüdische Siedler warten würde.

Heute spricht sie von der Notwendigkeit zweier Staaten, weil „Palästinenser in Israel nicht frei sind“. Donna Gould kritisiert, dass die US-Regierung „Geld zum Töten“ nach Israel schicke. „Feiglinge“, sagt sie erbost und meint die US-amerikanischen Kongressabgeordneten, die die Bombardements in Gaza nicht kritisieren. Im Alter von 81 Jahren legt Donna Gould jetzt Steine für die palästinensischen und die israelischen Opfer in Gaza nieder und zündet eine Kerze an.

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