US-Präsidentschaftswahl: Lost in Numbers

In den Umfragen liegt Joe Biden vorn – national und auch in den entscheidenden Bundesstaaten. Doch kann man den Zahlen trauen?

Joe Biden trägt eine Mundschutzmaske und hält sich eine Hand vor die Augen

In den Umfragen liegt Biden vorn: der Präsidentschaftskandidat bei einem Pressetermin am 12. Oktober Foto: Carolyn Kaster/dpa

Eigentlich war Hillary Clinton doch schon die Siegerin. Am Wahltag hatte die New York Times ihre Siegeschancen auf 85 Prozent taxiert, die anderen Prognosen hatten sich zwischen 70 und 99 Prozent eingependelt. Landesweit lag Clinton mit 3 Prozentpunkten vorn. Und auch da, wo es bei den Präsidentschaftswahlen darauf ankommt, sah es nach einem Sieg der Demokratin aus – in Pennsylvania, in Michigan, in Wisconsin.

In den frühen Morgenstunden, am 9. November 2016 um fünf Minuten nach halb drei, aber passierte das schwer Fassbare: Donald Trump hatte gerade die letzten notwendigen Stimmen in Wisconsin geholt, in einem knappen Anruf gratulierte ihm Clinton. In Manhattan leuchtete die Spitze des Empire State Building republikanisch rot.

Trump gewann 2016 weit mehr Bundesstaaten, als die Umfrageinstitute vorhergesagt hatten. Wiederholt sich die Geschichte?

Aktuell sehen die meisten Institute den demokratischen Präsidentschaftskandidaten Joe Bi­den deutlich vorn. Die Webseite Realclearpolitics, die akribisch Umfrage für Umfrage aufführt, taxiert ihn im Schnitt relativ stabil bei etwas mehr als 50 Prozent, Donald Trump bei 43 Prozent. Das Unternehmen Fivethirtyeight des Branchengurus Nate Silver gibt Biden einen Vorsprung von fast 9 Prozentpunkten. Beide Plattformen errechnen den Durchschnitt aller seriösen Umfragen.

Die Zahlen aus entscheidenden Bundesstaaten deuten ebenso auf einen Sieg Bidens hin. In Wisconsin, dem Staat, der Clintons Niederlage besiegelte, steht es laut Fivethirtyeight 52 zu 43 Prozent zugunsten von Biden, im hart umkämpften Pennsylvania 50 zu 45 Prozent, mit tendenziell aber enger werdendem Rennen.

Der Mittlere Westen erscheint derzeit wie die „blaue Wand“, die sich Hillary Clinton 2016 erhofft hatte, also klar in demokratischer Hand. Auch Michigan lieferte zuletzt gut 50 zu 43 Prozent für Biden.

Selbst in traditionell eher roten Staaten wie Georgia und Iowa gibt es kurz vor der Wahl eine Chance für Biden. In Georgia steht es laut Umfragen praktisch unentschieden mit 48 zu 47 für Biden, auch in Iowa und Arizona liegt Biden genauso knapp vorn. Nur, wie verlässlich sind diese Zahlen diesmal? Und könnte sich noch mal alles drehen?

Die zweite Frage beantwortet eine der renommiertesten US-Demoskop.innen ohne Zögern. „2020 ist es sehr viel unwahrscheinlicher, dass es bei den Wählern noch einen späten Wechsel gibt“, sagt Courtney Kennedy, Leiterin der Metho­denforschung bei dem Meinungsforschungsinstitut Pew, im Gespräch mit der taz. Nur 5 Prozent der Wähler.innen seien noch unentschlossen, 2016 waren es in der Woche vor der Wahl noch 15 Prozent.

Die Frage, wie es 2020 zuverlässigere Zahlen geben könnte, beschäftigt Kennedy seit vier Jahren. Im November 2016, wenige Tage nach der Wahl, saß sie in einer Schaltkonferenz mit Kolleg.innen aus dem ganzen Land. Die American Association for Public Opinion Research hatte die führenden Expert.­innen zusammengetrommelt. Sie sollten herausfinden, was schiefgelaufen war. Unter Kennedys Führung wurde ein Komitee zur Untersuchung der Fehler gebildet.

„Die nationalen Erhebungen waren korrekt“, sagt Kennedy. Klar ist aber auch: Bei den Umfragen auf Ebene der einzelnen Bundesstaaten „haben einige erhebliche Fehler“ gemacht, wie es im Abschlussbericht des Komitees heißt. Die Unterstützung für Trump im nördlichen Mittleren Westen ist unterschätzt worden. Zu sicher waren sich nicht nur die Demokrat.innen, dass die „blaue Wand“ dort halten würde.

Die Demoskop.innen hatten zu wenige weiße Männer vom Land und zu wenige Menschen ohne Collegeabschluss in ihren dann doch nicht so repräsentativen Befragungsgruppen. Demokratische Wähler.innen, von denen mehr in der Stadt leben und einen Collegeabschluss haben, waren zu stark vertreten.

Barack Obama hatte bei der Wahl 2012 eine große Zahl bisheriger Nichtwähler.innen an die Urnen gezogen. Im Jahr 2016 hatten die Demoskop.innen diese Wahlbeteiligung daher etwas stärker gewichtet. Das könnte in die verzerrte Gewichtung mit hineingespielt haben.

Die Politökonomin Maja Göpel hat mit „Unsere Welt neu denken“ einen Besteller geschrieben. Wir haben mit ihr über mögliche Zukünfte, das Befreiende von Verboten und eine Kindheit unter Hippies gesprochen – in der taz am wochenende vom 31. Oktober/1. November. Außerdem: Ein Blick auf die letzten Tage vor der US-Präsidentschaftswahl. Und: Das Wichtigste zum Corona-Teil-Lockdown. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Methodenprobleme wie etwa viele automatisierte Befragungen durch kleinere bundesstaatliche Institute trugen zudem zur Verfälschung der Ergebnisse bei. Aber insbesondere Trump-Wähler.innen taten das Ihre. Einige hatten nicht zugeben wollen, dass sie Trump wählen wollten. Und viele entschieden sich erst in der Woche vor der Wahl. „Von denen, die sich spät entschieden haben, gingen enorm viele für Trump ins Wahllokal“, sagt Kennedy.

Aus den Fehlern von 2016 habe die Branche gelernt, versichert sie: Die Auswahl der Befragten sei methodisch besser, die Befragungen seien repräsen­tativer, das Stadt-Land-Verhältnis sei penibel angepasst und der Bildungsstand stärker berücksichtigt. Insbesondere seien 2020 aber auch auf Bundes­staatsebene die großen nationalen Player der Umfragebranche eingestiegen. Das habe die methodische Qualität verbessert.

Direkte Befragungen in persönlichen Interviews seien ein entscheidender Faktor. Und für so etwas brauche es ein größeres Budget. Man könnte auch sagen: Es ist mehr Geld in bessere Umfragen investiert worden.

Robert Cahaly ist dagegen überzeugt, dass die klassischen Demoskopen.innen ein zweites Mal falsch liegen werden. Cahaly ist Chef der Trafalgar Group, eines Meinungsforschungsinstituts, das 2016 den Sieg Trumps in entscheidenden Bundesstaaten wie Michigan und Pennsylvania vorhergesagt hatte.

Seine Leute suchten auch inaktive Wähler.innen aus vergangenen Wahlperioden auf, nutzten kurze, an der angenommenen Aufmerksamkeitsspanne ausgerichtete Fragenkataloge und brachten so Menschen zum Antworten, die sonst durchs Raster fielen.

Die meisten Demoskopen.innen hätten immer noch nicht begriffen, dass sich die Welt geändert habe, sagte Cahaly jetzt dem Fernsehsender Fox News: „Die lassen es einfach nicht sein, Leute anzurufen und ihnen 20, 30 oder 40 verrückte Fragen zu stellen.“ Normale Leute nähmen aber nicht „an verrückt langen Befragungen teil“. Und normale Leute würden auch mal lügen.

Nach den Trafalgar-Zahlen liegt Trump derzeit in Arizona mit etwa 4 Prozentpunkten vorn, in Michigan und Pennsylvania ebenfalls, wenn auch mit gerade mal 2 Punkten, was de facto bedeutet: gleichauf. Der Vorsprung für Biden in Wisconsin liegt Trafalgar zufolge in einer genauso unerheblichen Größenordnung.

Auch Donald Trumps Lieblingsdemoskop.innen von Rasmussen Reports zeigen bessere Zahlen für den Präsidenten. Aktuell liegt er hier auf nationaler Ebene mit 47 Prozent hinter Biden mit 48 Prozent. Anfang der Woche war Trump sogar leicht im Vorteil gewesen. Die Zahlen von Rasmussen und Trafalgar gehen jedoch auch in die Berechnungen von Realclearpolitics und Fivethirtyeight mit ein.

Trump bringt ein unkalkulierbares Element mit. Das ermöglicht keine Gewissheiten

Ein gemäßigter republikanischer Demoskop ist Frank Luntz. Seine Prognosen sind meist nah am Ergebnis. Im Jahr 2016 hatte er die Siegesgewissheit des Clinton-Lagers mit großer Skepsis beobachtet. 2020 dagegen tippt Luntz auf einen Sieg Bidens.

Auf Twitter schrieb er aber auch: „Wenn die Demoskopen falschliegen, ist die Branche am Ende.“ Das unkalkulierbare Element, das Trump mitbringt, ermöglicht keine Gewissheiten.

Auch Courtney Kennedy schreibt Trump allen verbesserten Umfragen zum Trotz nicht ab. Es sei wahrscheinlich, dass er doch besser abschneide, als es die Zahlen im Moment hergäben. „Er hat so eine Art, Leute an die Wahlurnen zu bringen.“

Ganz anders berechnet Daniel Clifton den mutmaßlichen Ausgang der Wahl. Er ist Chef der Politikanalyseabteilung von Strategas Security und berät Anleger, die der Wahlausgang mit Blick auf ihr Aktienportfolio interessiert.

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Vor Investor.innen stellte er kürzlich ein ökonomisch basiertes Modell vor. Normalerweise entschieden vier Faktoren, ob ein Präsident wiedergewählt werde: die persönlichen Zustimmungsraten, der Börsenstand, das Bruttosozialprodukt und der Dollarkurs.

Derzeit gebe es gemischte Signale mit einem Dow-Jones-Index auf hohem Niveau, aber einer volatilen Wirtschaftslage und leicht sinkendem Dollar. Rechne er diese vier Faktoren zusammen, „würde Trump 52 Prozent der Stimmen gewinnen“. Zwischen Wiederwahl und Zustimmungsraten bestehe zudem ein 85-prozentiger Zusammenhang. Und die Zustimmungsraten stiegen zuletzt.

Natürlich legt sich auch Clifton nicht so einfach fest. Mit der Pandemie, der Rezession und den Protesten von Black Lives Matter gebe es in diesem Jahr große Unwägbarkeiten. Die Wahl sieht er nicht zuletzt als Referendum über Trump und die Pandemie.

Man könne dessen Siegeschancen mit den Zahlen der Covidfälle in Beziehung setzen. Und die steigen wieder. Clifton gibt dann aber doch eine Prognose ab: „Zurzeit gebe ich Biden eine 60-prozentige Gewinnchance, Trump 40 Prozent.“

Wählerregistrierung Am kommenden Dienstag findet die 59. Präsidentschaftswahl in den USA statt. Wahlberechtigt ist jeder Staatsbürger über 18 Jahre, der seinen Wohnsitz in einem der 50 Bundesstaaten oder dem District of Columbia hat oder zu einem früheren Zeitpunkt hatte. Weil die USA kein Einwohnermeldeamt kennen, muss man sich im Vorfeld selbst in das Wählerregister eintragen. Bürgerrechtsvertreter beklagen, dass einige Bundesstaaten durch zu restriktive Zulassungskriterien und eingeschränkte Möglichkeiten für eine vorgezogene Stimmabgabe Minderheiten am Wählen hinderten.

Electoral College Die Bundesstaaten wählen Wahlleute, die zum Electoral College zusammentreten und den Präsidenten wählen. 270 Wahlleute sind für den Sieg erforderlich. In den meisten Bundesstaaten gilt das Winner-takes-all-Prinzip – das kann bedeuten, dass ein Kandidat auf nationaler Ebene die Mehrheit der Stimmen hat, aber unterliegt, weil sein Gegner mehr Wahlleute gewonnen hat.

Es gibt die Demoskopie, die Marktanalyse und das Orakel: Allan Lichtmann. Der Historiker von der American University in Washington, D. C., setzt für seine Prognose auf eine Analyse der Lage des amtierenden Präsidenten anhand von 13 Faktoren, darunter die Zustimmung zu den Parteien, die aktuelle ökonomische Lage, die langfristigen wirtschaftlichen Aussichten, innenpolitische und außenpolitische Erfolge sowie Charisma.

Jede Wahl der US-Präsidenten seit 1984 hat er damit richtig vorhergesagt. Und diesmal? Er setzt mit 7:6 auf Joe Biden.

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Am 3. November 2020 haben die USA einen neuen Präsidenten gewählt: Der Demokrat Joe Biden, langjähriger Senator und von 2009 bis 2017 Vize unter Barack Obama, hat sich gegen Amtsinhaber Donald Trump durchgesetzt.

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