Türkei vor der Parlamentswahl: Die Kinder von Adıyaman
Seit den jüngsten Anschlägen ist das Land verunsichert und zerstritten. Ein Besuch in der Stadt, aus der viele der Attentäter stammen.
Späht man durch die Gitter vor den Fenstern, sieht man noch Werkzeug auf dem Tisch liegen. Einen Hinweis auf das „Teehaus Islam“ gibt es nicht. Dabei hatten sich in diesen Räumen bis Februar Islamisten getroffen. Mehr noch: In diesem Café haben drei Attentäter viel Zeit verbracht, die in den vergangenen Monaten insgesamt 139 Menschen getötet haben.
Am Sonntag wird in der Türkei ein neues Parlament gewählt. Und das, obwohl die letzte Wahl gerade mal fünf Monate her ist. Im Juni verlor die AKP ihre absolute Mehrheit. Weil die Koalitionsverhandlungen scheiterten, beschloss Präsident Recep Tayyip ErdoğanNeuwahlen. Das Attentat in Ankara im Oktober, bei dem 102 Menschen umkamen, überschattet den Wahlkampf.
Wer Adıyaman besucht, will Antworten darauf, welche Zukunft dem türkischen Staat bevorsteht.
Adıyamanist eine Stadt mit 225.000 Einwohnern, 90 Kilometer sind es zur syrischen Grenze. Die Stadt ist bekannt für ihre Tabakproduktion. Touristen besuchen sie, um den Berg Nemrut zu sehen. Nach dem Attentat in Ankara veröffentlichte die Regierung eine Liste von 21 Verdächtigen. 19 der 21 Menschen stammen aus Adıyaman.
Zwei Brüder, 135 Tote
„Sie pflegten gute Dinge über den Islam zu sagen”, erinnert sich ein Mann, der neben der „Teestube Islam“ auf einem Schemel sitzt. Er isst Fladenbrot und trinkt Tee. Ein Kurde, 81 Jahre alt. Seinen Stock hat er an die Wand gelehnt. „Wir dachten, sie wären gute Leute, aber dann hörten wir, dass sie sich in die Luft gejagt hatten.”
Wie man jetzt weiß, ist Yunus Emre Alagöz einer der beiden Selbstmordattentäter von Ankara. Er war Geschäftsführer des „Teehauses Islam“. Sein jüngerer Bruder Seyh Abdurrahman Alagöz hatte sich am 20. Juli im südtürkischen Suruç in die Luft gesprengt. 33 Menschen hat er mit in den Tod gerissen – Anhänger einer regierungskritischen Jugendorganisation.
46 Mal hat es laut BKA 2015 in deutschen Flüchtlingsheimen gebrannt. Kaum ein Fall ist aufgeklärt. Wir ermitteln in alle Richtungen, sagt die Polizei stets. Aber was heißt das? Die Geschichte eines Falls aus der Oberpfalz lesen Sie in der Titelgeschichte „Die Stadt und die Flammen“ in der taz. am wochenende vom 31. Oktober/1. November. Außerdem: Wer gibt schon gerne zu, dass er kokst? Die Wahrheit darüber, was wir wann und wo nehmen, kennt das Abwasser. Und: Viele Deutsche mögen Halloween nicht. Dabei ist es das Fest gelungener Integration. Das alles gibt es am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Geplant wurden beide Attentate wohl vom Islamischen Staat. Am Mittwoch teilte die Staatsanwaltschaft in Ankara mit, dass die Befehle direkt aus Syrien kamen. Ziel der Attentate war wohl, Unruhe zu stiften. Und die bevorstehende Neuwahl am Sonntag zu sabotieren, sagt die Staatsanwaltschaft.
„Die Polizei wusste, was geschah, weil Eltern den Beamten gemeldet hatten, wie sehr sich ihre Kinder radikalisiert hatten“, sagt Osman Süzen, Rechtsanwalt der Menschenrechtsorganisation İnsan Hakları Derneği, der betroffene Angehörige rechtlich vertritt. Doch der Staat schritt nicht ein.
Attentat in Diyarbakir
Eine der Familien, die sich an die Behörden gewandt hatten, ist die von Orhan Gönder. Ihm wird das Zünden zweier Bomben auf einer kurdischen Demonstration in Diyarbakıram 5. Juni zur Last gelegt. Auch dieses Attentat soll der IS geplant haben. Vier Menschen wurden dabei getötet, fast 100 verletzt.
Orhan Gönder ist noch am Leben. Er ist im Sincan-Gefängnis außerhalb Ankaras inhaftiert. Auch Gönder war häufig im „Teehaus Islam“.
Drei Kilometer östlich des Teehauses hat sein Cousin Ercan Gönder eine Bäckerei. Er ist 34, 14 Jahre älter als Orhan. Der Jüngere half als Kassierer aus, wenn die Geschäfte gut liefen. Seit bekannt wurde, dass Orhan Gönder der Attentäter sein soll, hat sein Cousin Hunderte Interviews gegeben. Er möchte den Fall öffentlich machen, sagt er.
Orhan Gönders Radikalisierung begann vor etwa drei Jahren, während seines Studiums. Er sagte seiner Familie, dass er einen religiösen Traum hatte. Er las den Koran, betete fünfmal täglich und weigerte sich plötzlich, neben Frauen zu sitzen.
Am Montag, den 13. Oktober 2014, brennt er durch. In dieser Zeit wird gerade die kurdisch-syrische Region Rojava vom Islamischen Staat bedroht. Gönder lässt einen Abschiedsbrief zurück. Er schreibt, dass er sich auf den Weg nach Syrien mache, um einem Angriff der PKK zu entgehen. „Es gab keinen solchen Angriff“, sagt sein Cousin heute. „Das war eine Erfindung, um die jungen Männer zum Islamischen Staat zu bringen.“
Die Familie verteilte Flugblätter
Zwei Monate nach Orhan Gönders Verschwinden besucht Premierminister Ahmet Davutoğlu, AKP-Mitglied, die Stadt. Die Gönders und drei weitere Familien, deren Kinder zum Islamischen Staat gegangen sind, bekommen eine Audienz bei ihm. „Der Premierminister sagte, dass er die Namen unserer Kinder an den Nationalen Nachrichtendienst weiterleitet. Der würde sich des Problems annehmen”, sagt Ercan Gönder.
Am 7. Januar ruft Orhan Gönder seine Verwandten zu Hause an. Er weint. Die Familie fleht ihn an, nach Hause zu kommen. Der Polizei gelingt es, den Anruf zurückzuverfolgen. Sie lokalisieren ihn in Tel Abyad, einer syrischen Stadt direkt an der türkischen Grenze, die zu diesem Zeitpunkt vom Islamischen Staat kontrolliert wird.
Ercan Gönder fährt daraufhin mit anderen Verwandten nach Akçakale, dem türkischen Nachbarort Tel Abyads. „Wir hatten gehört, dass Orhan in Akçakale gesehen wurde, wie er Internetcafés besucht und eingekauft hat.” Vor Ort verteilt die Familie Flugblätter mit Orhans Foto. Finden können sie ihn nicht. „Wenn der Staat sich bemüht hätte, dann hätten sie ihn fangen können“, sagt Ercan Gönder heute.
Das nächste Mal hört die Familie erst wieder von Orhan, als man ihn wegen des Bombenattentats sucht. Er wird mithilfe von Telefondaten und Aufnahmen der öffentlichen Überwachungskameras identifiziert.
Ercan Gönder macht zwei Gruppen für die Radikalisierung seines Cousins verantwortlich: die Islamisten, die ihm eine Gehirnwäsche verpasst haben. Und den türkischen Staat, der seinen Cousin nicht in Gewahrsam genommen hat.
Vorwürfe an die Polizei
Der Bürgermeister von Adıyaman, Hüsrev Kutlu, weist jede Verantwortung von sich. Kutlu, der im März 2014 gewählt worden ist, gehört wie Premierminister Davutoğluzur AKP. „Wir haben alles getan, was wir konnten”, sagt Kutlu. „Die Behörden konnten nicht eingreifen, weil die Kinder schon verschwunden waren, als sich ihre Eltern beschwerten.“
Das bestreitet Ercan Gönder. Als seine Familie sich erstmals an die Polizei wandte, sei Orhan noch zu Hause gewesen: „Offen gesagt: Die Polizei hat sich einfach nicht dafür interessiert”
Bürgermeister Kutlu sagt, dass er erst im Februar registriert habe, dass der Islamische Staat junge Männer in Adıyamanrekrutiert. Zu diesem Zeitpunkt war der Premierminister längst zu Gast gewesen. Der hatte mit den betroffenen Familien bereits im Dezember gesprochen.
„Keine der Familien beklagte sich, dass ein gewisser Soundso ihre Kinder einer Gehirnwäsche unterzogen hätte. Wenn die Familien Namen genannt hätten, hätten die Behörden etwas unternommen.”
Der Menschenrechtsaktivist Osman Süzen findet, dass nicht nur die Behörden in AdıyamanVerantwortung tragen. „Die Regierung hat diese Gruppe von Militanten erstarken sehen, doch hat sie ignoriert.” Premierminister Davutoğluargumentiert, dass der Staat die 21 Verdächtigen auf der Liste nicht habe festnehmen können, solange sie kein Verbrechen begangen haben.
Die Mitgliedschaft in einer terroristischen Gruppe sei bereits ein Verbrechen, hält Süzen dagegen. In anderen Fällen handelt der Staat früher. „Der Sicherheitsapparat hatte weder die Sorge noch die Weitsicht, um zu erkennen, wozu diese Gruppe fähig ist.”
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