piwik no script img

Türkei-Wahl und EUKein Beitritt in Sicht

Gemma Teres Arilla
Kommentar von Gemma Teres Arilla

Die Türkei entscheidet bei der Stichwahl nicht nur über den Präsidenten. Es geht auch darum: Distanzierung von der EU oder erneute Beitrittsverhandlungen.

Stau in Duis­bur­g: Er­do­gan-Fans bei Hupkonzert Foto: Christoph Reichwein/dpa

D ie türkischen Wäh­le­r*in­nen werden sich in der Stichwahl am 28. Mai nicht nur für ihren künftigen Präsidenten entscheiden, sondern auch entweder für eine verschärfte Distanzierung von der EU oder für eine mögliche Wiederaufnahme der seit Jahren ruhenden Beitrittsverhandlungen. Doch egal wie das Ergebnis ausfällt, eine Sache wird gleich bleiben, denn Ankara und Brüssel brauchen einander: das EU-Türkei-Abkommen.

Sowohl Recep Tayyip Erdoğan als auch sein politischer Gegner, Kemal Kılıçdaroğlu, wollen den Trumpf der Fluchtrouten in der Hand behalten und dafür die vereinbarten 6 Milliarden Euro kassieren. So oder so werden Flüchtlinge für den Erpressungsmechanismus der beiden herhalten müssen, nicht zuletzt, weil die Fluchtzahlen steigen und die 27 EU-Mitglieder für eine härtere Abriegelung der Außengrenzen eintreten.

Eine gewisse Verbitterung gegenüber dem Westen schwebt ohnehin im gesamten türkischen politischen Spektrum mit – auch wegen des – aus türkischer Sicht – ungerechten Umgangs mit Ankara innerhalb der Nato. Sollte Kılıçdaroğlu gewinnen, würde es allerdings sicher zu einer Normalisierung der diplomatischen Beziehungen und zu einer Vertiefung der strategischen Partnerschaft kommen.

Denn Brüssel braucht die Türkei, gerade auch mit Blick auf die Energiesicherheit und auf eine Stabilisierung der Lage im Nahen Osten. Kılıçdaroğlu hat sich zusammen mit seiner Koalition proeuropäisch positioniert, doch bei zahlreichen Themen sind sich die Partner uneins. Die Freilassung von Oppositionellen wurde versprochen, jedoch bleibt die To-do-Liste nicht allein in Bezug auf Menschenrechte – eine der Hauptforderungen der EU – extrem lang.

Doch auch ohne Erdoğan wäre ein Beitritt unter den 27 EU-Mitgliedsstaaten keinesfalls Konsens. Die bilateralen Beziehungen zwischen der Türkei und Griechenland sind hoch angespannt. Wer wissen will, wie man eine Neumitgliedschaft blockiert, muss nur einen Blick auf Bulgarien und Nordmazedonien werfen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Gemma Teres Arilla
Leitung taz Panter Stiftung
Jahrgang 1982, ist Leiterin der taz Panter Stiftung. Zuvor war sie stellvertretende Auslandsressortleiterin und taz-Europa-Redakteurin. Bei der taz hat sie im Mai 2022 als Themen- und Nachrichtenchefin angefangen. Sie berichtet seit 2005 als freie Korrespondentin für Tageszeitungen, Fernseh- und Radiosender über Deutschland, Zentral- und Osteuropa. Ihre Karriere als Journalistin hat sie in Spanien gestartet und an der FU Berlin hat sie sich auf Osteuropa und Russland spezialisiert. Mehrere multimediale Projekte hat sie initiiert und durchgeführt, um Mehrsprachigkeit, Vielfalt und Toleranz in der Gesellschaft zu fördern.
Mehr zum Thema

9 Kommentare

 / 
  • Kilicdaroglu positioniert sich in der Tat proeuropäisch. Hierzu passt auch seine unerträgliche, menschenverachtende, brutale Hetze gegen Geflüchtete, die in Millionen ohne jede Gnade in Zerstörungs- und Kriegsgebiete zurückschicken will. Die EU will diese Menschen um jeden Preis, auch unter dem Preis der Zerstörung ihres Lebens, von den eigenen Staatsgebieten fernhalten. Dafür zahlt sie der Türkei Geld, so wie sie anderswo in Afrika Grenzen ausbauen und dadurch Hunger und Krieg verbreiten lässt.

    Kilicdaroglu will das Werk der EU noch sicherer machen. Sie sollen nach weiter weg. Die, die auf den Straßen in den großen Städten in Obdachlosigkeit leben, die, die eine ganze Generation ohne Bildung verlieren, ihre Spuren sollen getilgt und beseitigt werden.

    Von Anfang postulierte er das im Wahlkampf, jetzt in der Stichwahl bedroht er das Leben von Geflüchteten in einem Ausmaß wie nie zuvor, in der Hoffnung, dass diese Schlechtigkeit ihn an die Macht bringt.

    Nein, das ist keine Verteidigung von Erdogan, lächerlich, wer das daraus entnehmen sollte. Aber gegen niemanden dürfen wir für Hetzer Partei ergreifen.

    Das ist ein schwarzes Kapitel der Opposition gegen Erdogan. Es ist unverzeihlich.

  • Der Glaube, eine EU-Mitgliedschaft würde automatisch zu einer demokratisch-pluralistischen Transformation führen, ist genau so tot wie der Glaube an den Wandel durch Handel. Ob nun 55 % oder 45% für Erdogan stimmen wird an dem Thema nichts ändern.

    • @Ignaz Wrobel:

      Ich glaube auch. Man hat sich durch die sehr positiven Entwicklungen in Portugal und Spanien zur Annahme verführen lassen, ein EU-Beitritt führe automatisch zu einer deutlichen gesellschaftlichen Liberalisierung. Speziell im Falle Spaniens war der Fortschritt ja enorm. Von einer Postdiktatur mit teils tiefkatholischer Bevölkerung zu einem Land, dass Jahre vor Deutschland die Ehe öffnete.

      Nichts deutet noch darauf hin, dass das kein Sonderfall war.

  • Seien wir ehrlich: spätestens nach den Erfahrungen mit Ungarn erwägt doch niemand mehr den Beitritt der Türkei. Und Ungarn ist noch ein kleines Land. Die Türkei wäre das bevölkerungsreichste Land der EU. Noch dazu hat sie Außengrenzen mit Syrien, dem Iran und Irak. Völlig unvorstellbar, dass es damit keine massiven Probleme gäbe.

  • der türkei jemals einen eu-beitritt ...

    anzutragen, war historischer überschwang.

    es würde europa zerreissen, wenn es jemals dazu käme.

    eine priviligierte partnerschaft sollte das maß aller dinge sein.

    für die ukraine gilt gleiches.

  • Ein Beitritt der Türkei wäre Selbstmord für die EU.

    Die Türkei ist ein post-imperialer Staat der expansive Ambitionen pflegt



    (Revisionismus ggü. Griechenland und in Syrien, Postkolonialismus in Libyen). Ankara erhebt den Anspruch, militärische Ordnungsmacht zu sein. Auch wenn die Wirtschaft schwächelt: machtpolitisch und militärisch ist die Türkei potenter als Deutschland und würde, als dann größter EU-Staat, die EU zerreißen.

    Was gerne übersehen wird: die Türkei war nie Kolonie sondern bis 1918 ein Imperium mit eigenem Kolonialreich inkl. Sklavenhandel dessen Ausmaße sich vor dem Transatlantischen Handel nicht verstecken brauchten. Dies ist wieder/immernoch(?) der Bezugspunkt der türk. Rechten.

  • Es ist ja nicht Erdogan alleine. Seine ganze Familie ist in die elenden Geschäfte verstrickt. Wer aufmuckt landet im Knast - ein klassischer Diktator mit Demokratie-Mäntelchen.

  • Wäre der EU-Beitritt damals durchgekommen, dann wäre die EU heute tot oder sich wünschen tot zu sein.

    Ein EU-Beitritt würde für mich nur bedeuten bei jeder türkischen Wahl abzuwarten ob die EU diesmal in die Binsen geht... in der EU läuft vielleicht nicht alles prima, aber das ist kein Grund sie an die Wand zu fahren.

  • Erdogan wird knapp gewinnen und stets von 100% Türkischem Willen reden zukünftig. Ene Erdokatur wird kommen: Durchregieren durch einen Einzelnen unter dem Deckmantel des demokratischen Wahlgewinns. Bitter mit sowas dann umzugehen, umgehen zu müssen als EU, als DE. Sachpolitik mit einem unsachlichen Machtmenschen? Letztlich unmöglich. Auf Abstand gehen wäre das Klügste, unsere eigenen Probleme ohne dieTürkei in den Griff bekommen, was nix anderes heißt jahrelang gestellte Weichen neu zu stellen. Insbesondere in der Flüchtlings- und Sicherheitspolitik.



    Das wir hier übrigens mehrheitlich Erdo Fans als Mitbürger und Nachbarn und Kollegen haben ist ein bitterer Beigeschmack bei diesem Menü. Schlimm wie die zu ticken scheinen in ihrem verklärten Blick auf die (oft nur alte) Heimat.