Trittin über die EU nach dem Brexit: „Die Phase der Ruhe ist vorbei“
Der Brexit sei die Folge neoliberaler Politik in Europa, sagt Grünen-Politiker Jürgen Trittin. Auch Kanzlerin Merkel trage eine Mitverantwortung.
taz: Herr Trittin, Großbritannien verlässt die EU. Macht Ihnen diese Aussicht Angst?
Jürgen Trittin: Der Ausgang des Referendums erfüllt mich mit Sorge. Der Sieg der Brexit-Befürworter stürzt die Europäische Union in eine tiefe Krise. Er wirft die Frage auf, ob es dieses Europa langfristig geben wird, oder ob wir zurückfallen in den Nationalismus der Nationen.
Die Fliehkräfte im gestressten Europa werden jetzt zunehmen. Droht die EU auseinanderzubrechen?
Ich halte für denkbar, dass es in anderen Ländern Versuche geben wird, dem britischen Vorbild zu folgen. Für Rechtspopulisten wie Geert Wilders oder Marie Le Pen ist das Wasser auf ihre Mühlen. Sie haben angekündigt, ebenfalls Volksabstimmungen über einen EU-Austritt anzustreben.
Das heißt, das geeinte, nach Integration strebende Europa, das wir seit Jahren kennen, könnte es so nicht mehr geben?
Richtig. Europa verhieß in der Nachkriegsordnung Frieden, Demokratie und Wohlstand. Diese Phase der Ruhe, des immer weiter voranschreitenden Zusammenwachsens ist vorbei. Der Staatenbund steht vor einer Bewährungsprobe mit offenem Ausgang.
Warum haben sich die Briten knapp gegen Europa entschieden? Viele Experten halten das für wirtschaftspolitisches Harakiri.
Ich glaube, dass wir es im Kern mit den Folgen neoliberaler Politik zu tun haben. Sehen Sie sich die Wahlanalysen aus Großbritannien an: Gegen die EU haben vor allem ältere Menschen gestimmt, gering Qualifizierte und Einkommensschwache. Diese Leute sehen in der EU eine Bedrohung und sie versprechen sich Schutz vom Nationalstaat. Solche Ängste zeigten sich auch bei der Präsidentenwahl in Österreich, wo die FPÖ stark abschnitt.
Der Neoliberalismus ist schuld? Viele Brexit-Fans haben doch eher Angst vor zu viel Zuwanderung.
61, Ex-Bundesumweltminister, sitzt für die Grünen im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags. Zuvor war er Fraktionschef und Spitzenkandidat für die Bundestagswahl. Nach dem schlechten Ergebnis seiner Partei zog er sich aus der Spitze zurück.
Diese vorgebliche Angst vor Fremden ist nur ein Symptom. Dahinter stecken ein tiefes Unbehagen nach der Finanzkrise und die Angst, eigene Vorteile zu verlieren. Das sucht sich Ventile, im Moment sind es eben die Migranten. Dass ausgerechnet Großbritannien sich vor Zuwanderung fürchten müsse, ist doch absurd.
Großbritannien vereint als Nachfolger des British Empire seit jeher viele Nationalitäten …
… und es hat in den vergangenen Jahrzehnten massiv durch Zuwanderung profitiert. In dem Land leben sehr viele, gut integrierte und gebildete Commonwealth-Staatsbürger. Ich bleibe deshalb dabei: Im Kern beobachten wir die Entzauberung des Neoliberalismus. Konservative Politiker werden von den Geistern gefressen, die sie selbst entfesselt haben.
Premierminister David Cameron hat bereits seinen Rücktritt angekündigt. War das unvermeidlich?
Cameron hat dieses Referendum gestartet, um seine konservativen Gegner zu befrieden. Später redete er fast panisch dagegen. Er hat wegen einer innenpolitischen Krise die ganze EU ins Chaos gestürzt. Das ist wie im Zauberlehrling. Cameron hat den Besen Boris Johnson aus der Ecke geholt – und wird jetzt von ihm weggefegt.
Wie muss jetzt die EU reagieren? Viele EU-Politiker wollen schnell den Austritt – ohne zuvor über Vergünstigungen für London zu reden.
Das Votum des Volkes muss man ernst nehmen. Die EU und Großbritannien müssen deshalb schnell in Austrittsverhandlungen eintreten. Dass Cameron meint, noch drei Monate Premier bleiben zu können, und erst sein Nachfolger solle sich um den Austritt kümmern, verwundert. Welche Folgen der Austritt für Großbritannien hat, kann im Moment noch niemand genau sagen. Nur eins ist sicher. Ganz normale Menschen werden leiden. Dass das Pfund im Wert sinkt, bedeutet ja: Viele Briten werden merken, dass ihre Altersvorsorge weniger wert ist.
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz regt einen Konvent an, der neue Regeln für die EU diskutieren soll. Eine gute Idee?
Ein Konvent zur jetzigen Zeit würde aus meiner Sicht die Rechtspopulisten nur weiter stärken. Eine elitär besetzte Diskussionsrunde verstärkt das Klischee, die EU sei ein abgehobener Bürokratenverein. Ich glaube: Man wird Europa nur zusammenhalten können, wenn man die Gesellschaft zusammenhält.
Es braucht also eine andere Politik?
Ich sehe es so. In den vergangenen Jahren haben Konservative die europäische Agenda bestimmt. Eine konservative Mehrheit in der Kommission, im Rat und im Parlament hat auf freie Märkte und Deregulierung gesetzt. Doch wer durch harte Austeritätspolitik Ungleichheit verstärkt, macht die Rechten stark.
Die europäische Krisenpolitik verantwortet zu einem guten Teil Kanzlerin Angela Merkel. Ist Merkel also verantwortlich für den Brexit?
Merkel hat das deutsche Modell anderen Staaten aufgezwungen. Sie hat eine globale Finanzkrise, die durch Vermögensblasen entstand, in eine Schuldenkrise einzelner Staaten umdefiniert – siehe Spanien. Das hat verhindert, dass wir die Krise richtig aufgearbeitet haben. Diese Politik ist gescheitert und mitverantwortlich für das, was wir jetzt erleben.
Was muss die Bundesregierung nun tun?
Wir brauchen Investitionen. Marktliberale Reformen und Sparprogramme helfen Staaten nicht, die in einer Rezession stecken. Stattdessen braucht die EU eine gemeinsame Investitionspolitik. Und Merkel müsste öffentlich sagen, was sie bisher abstreitet: Die EU ist eine Transferunion. Wer besonders viel gibt, profitiert übrigens sogar davon.
Wie lässt sich das schlechte Image Europas ändern? Viele Menschen halten Brüssel für einen teuren, regelungsversessenen Moloch.
Dafür sind viele Staatschefs selbst verantwortlich. Sie treffen in Brüssel Entscheidungen, die in ihrem Land unpopulär sind. Deshalb erzählen sie zu Hause, Brüssel sei schuld. CDU und CSU regen sich zum Beispiel gerne über eine EU-Verordnung auf, die den Krümmungsgrad von Gurken vorschreibt. Die Wahrheit ist, dass deutsche Ratsvertreter diese Regelung im Auftrag deutscher Handelskonzerne in Brüssel durchgesetzt haben. Es muss endlich Schluss sein damit, dass aus innenpolitischem Kalkül oder Lobbyservilität mit dem Finger auf Brüssel gezeigt und „Haltet den Dieb“ geschrien wird.
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