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Trau­m­a­re­fe­ren­t*in zu Aschaffenburg„Viele Menschen werden erst in Deutschland richtig krank“

Psychisch kranke Geflüchtete seien unzureichend versorgt, sagt Leo Teigler vom Dachverband der Psychosozialen Zentren. Und es werde weiter gespart.

Gedenken in Aschaffenburg: Könnte bessere psychosoziale Versorgung eine solche Tat weniger wahrscheinlich machen? Foto: Daniel Vogl/dpa
Marco Fründt
Interview von Marco Fründt

taz: Sie arbeiten mit psychisch kranken Geflüchteten und als Re­fe­ren­t*in beim Dachverband der Psychosozialen Zentren. Wie hoch ist der Bedarf?

Leo Teigler: Studien zeigen, dass rund 30 Prozent der Geflüchteten an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Im Jahr 2022 wurden in den psychosozialen Zentren 25.861 geflüchtete Personen versorgt. Setzt man das ins Verhältnis, konnten also nur 3,1 Prozent derjenigen, die Bedarf haben, versorgt werden.

taz: Wie viele psychosoziale Zentren gibt es bundesweit?

Leo Teigler: 51. Es gibt natürlich darüber hinaus auch einige niedergelassene Psy­cho­the­ra­peu­t:in­nen und einige Traumaambulanzen oder andere Ambulanzen in Kliniken, die sich Geflüchteten annehmen. Aber das ist eine sehr geringe Zahl. Die Regelversorgung ist schlecht aufgestellt für diese Zielgruppe.

taz: Mit welchen Problemen haben die Zentren zu tun?

Leo Teigler: Ein Problem ist auf jeden Fall die Finanzierung. Sie macht es schwierig, Fachkräfte zu halten, weil in der Regel befristete Verträge ausgestellt werden oder es keine Aussicht auf eine längere Anstellung gibt.

Und es ist natürlich auch problematisch, wenn die psychosozialen Zentren mit der Regelversorgung nicht gut zusammenarbeiten können. Nicht jedes PsZ kann darauf setzen, einen guten Kontakt zum Beispiel zu einer psychiatrischen Klinik zu haben. Auch die Sprachmittlung ist eine Leistung, die die psychosozialen Zentren selbst finanzieren müssen.

taz: Der Mann, der in Aschaffenburg mutmaßlich zwei Menschen erstochen hat, wurde mittlerweile in eine psychiatrische Klinik überwiesen. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen den von Ihnen geschilderten Problemen und Fällen wie diesem?

Im Interview: Leo Teigler

ist Re­fe­ren­t*in für Traumaarbeit und psychosoziale Versorgung in der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer.

Leo Teigler: Das kann man so pauschal nicht beantworten. Ich glaube, dass es weniger wahrscheinlich wäre, dass so etwas passiert, wenn es für alle Menschen eine bessere Versorgung geben würde. Auch in Psychiatrien und dem Rest der Regelversorgung. Es gibt definitiv strukturelle Versäumnisse in der Gesundheitsversorgung, die jetzt migrationspolitisch ausgeschlachtet werden, was katastrophal ist.

Wenn in einem psychosozialen Zentrum Fremd- oder Selbstgefährdung bei Kli­en­t:in­nen feststellt wird, müssen diese sofort in eine psychiatrische Klinik verwiesen werden. Im psychiatrischen Arbeiten ist es aber nie zu 100 Prozent möglich, abzuschätzen, ob eine Person nicht nach Behandlungsabschluss aus irgendwelchen Gründen nochmal in psychotische Zustände gerät.

taz: Was sind die Fälle, die Ihnen in Ihrer Arbeit begegnen und wie gehen Sie damit um?

Leo Teigler: Der absolute Großteil der Kli­en­t:in­nen erlebt viel Gewalt. Erst als Fluchtgrund, dann während der Flucht. Und dann auch hier in Deutschland, was die Unterbringung angeht, was die Wartezeiten angeht, was den Zugang zu Hilfesystemen angeht. Der absolute Großteil der Menschen, der in den PsZ Hilfe sucht, ist sehr dankbar für diese Unterstützung, weil die Menschen ansonsten eben keine Hilfe im System bekommen.

Es gibt auch viele Menschen, die erst in Deutschland wirklich krank werden, die ihre traumatischen Erfahrungen vorher im Überlebensmodus noch verkraftet haben und erst hier Symptome ausbilden. Gerade in dieser politischen Situation, in der sehr viel mehr Diskriminierung und rassistische Gewalt stattfindet.

taz: Wie sehen Sie die „Law and Order“-Politik, die jetzt unter anderem von der Union gefordert wird?

Leo Teigler: Diese Idee, Register für psychisch kranke Menschen einzuführen, erinnert an die NS-Zeit. Ich finde das aus fachlicher und aus politischer Perspektive menschenverachtend.

Menschen, die Gewalt erlebt haben und eine gute Versorgung bekommen, sind überhaupt kein Risiko für irgendjemanden. Dass dies aber suggeriert wird, zusätzlich zu der Gewalt, der Menschen ausgesetzt sind, macht uns sprachlos.

Es sind Personen, die extreme zwischenmenschliche Gewalt erfahren haben, Krieg, Verfolgung, Folter, Vergewaltigungen. Das überlebt zu haben, sich mit letzter Kraft noch Hilfe zu suchen und dann als gefährlich gelabelt zu werden, ist gerade für Deutschland mit seiner Geschichte wirklich eine Schande.

taz: Sehen Sie ein Behördenversagen?

Leo Teigler: Ja. Es wird eine Situation hergestellt, in der Prekarität herrscht, in der es keine Kapazitäten gibt, vermeintlich. Und dann werden Probleme, die dadurch entstehen, auf dieses System geschoben, das man selbst schlecht ausgestattet hat.

taz: Sie hatten gesagt, die Zahlen derer, die gewalttätig werden, sind verschwindend gering. Dennoch sind dies die Fälle, auf die sich die Politik stürzt. Kann man Gewalt durch traumatisierte Menschen verhindern?

Leo Teigler: Ich würde sagen, das ist eine fehlgeleitete Frage. Gewalt passiert aus unterschiedlichen Gründen und nicht nur ausgelöst durch Traumatisierung. Es sind so viele Menschen traumatisiert, wenn das der Schlüssel wäre, um gewalttätig zu handeln, würde das sehr viel häufiger passieren.

Grundsätzlich hilft gegen Gewalt natürlich immer, dass Menschen versorgt sind, dass sie teilhaben können an der Gesellschaft, dass jemandem auffällt, wenn sie Unterstützung brauchen. Und das wird durch dieses System, was wir haben, strukturell extrem schwierig gemacht.

Wie finanzieren Sie Ihre Arbeit mit Geflüchteten?

Leo Teigler: Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz besteht für Schutzsuchende in den ersten drei Jahren nur bei akuten Erkrankungen oder Schmerzzuständen ein Anspruch auf Versorgung. Ob Psychotherapie darunter fällt, liegt im Ermessen des jeweiligen Sozialamts. Der Zugang zur Regelversorgung funktioniert meist schlecht.

taz: Gibt es andere Möglichkeiten, die Menschen zu behandeln?

Leo Teigler: Psychosoziale Zentren (PsZ), die eher projektfinanziert sind oder über Landes- und Bundesmittel, versuchen diese Versorgungslücken zu schließen. Die PsZ haben ein Angebot, in dem auch soziale Arbeit und rechtliche Beratung Teil sind. Das Bundesprogramm wurde aber gerade von 13 auf sieben Millionen gekürzt. Die Kürzungen bedeuten bei der ohnehin schon prekären Finanzierung durch das Asylbewerberleistungsgesetz unterm Strich, dass die Kapazitäten, die eigentlich gebraucht werden, um den Unterstützungsbedarf zu decken, finanziell überhaupt nicht abgesichert sind.

taz: Wie schauen Sie auf die Bundestagswahl?

Leo Teigler: Wir machen uns Sorgen über eventuelle rechtliche Veränderungen in der Asyl- und Migrationspolitik, die Menschen in noch prekärere Situationen bringen würden. Das haben wir auch schon nach Solingen gesehen, da gab es gesetzliche Veränderungen für Personen in Duldung. Ihnen sollen Leistungen gestrichen werden und Menschen de facto in die Wohnungslosigkeit getrieben werden.

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10 Kommentare

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  • Ich hab mir das Interview auch mit Interesse durchgelesen. Das Interview hat den Interview BIAS. Wenn man nur Menschen in Deutschland behandelt kennt man nur Menschen, die in Deutschland krank sind. Tötungsdelikte durch Geflüchte gehen mehrheitlich auf schwere psychiatrische Erkrankungen zurück, die es überall auf der Welt gibt. "AMOK" kommt aus der malaiischen Sprache. Geflüchtete mit PTBS oder Depression begehen solch aggressive Delikte nicht, da sie antriebsgemindert (eingeschüchtert durch das was sie vor / auf der Flucht erlebt haben) sind. Personen aber mit einer paranoiden Schizophrenie brauchen eine konsequente psychiatrische Behandlung und stabile Wohnsituation ggf. mit Einschaltung des Ordnungs- und Sozialamts. Das lief mehrfach behördlicherseits schief. M.a.W. : Wenn man 100.000 aufnimmt, sind 1.000 darunter die psychiatrische Erkrankungen mit Fremdgefährdung haben. Gemessen daran sind ca. 10 Amokläufe / Attacken wenig, zugegeben ein schwacher Trost. Unter den 80 Mio Deutschen gibt es 800.000 Erkrankte, die etwas seltener auffällig werden weil ihr Umweltkontext stabiler ist. Darum geht es. Das wäre zu tun.

    www.gesundheitsinf...schizophrenie.html

  • Die psychische Regelversorgung klappt schon bei den Bürgern nicht, wie soll sie da bei Flüchtlingen klappen?

  • Angesichts der hohen Zuwanderungszahlen ist eine weitergehende Versorgung vollkommen ausgeschlossen. In einem ersten Schritt müsste die Zuwanderung massiv gesenkt werden, damit denjenigen die kommen auch bedarfsgerecht geholfen werden kann.

    Die Kommunen sind einfach in jeder Hinsicht vollkommen überlastet.

  • Danke für dieses Interview!



    Genau dieser Aspekt wird ÜBERHAUPT NICHT beachtet. Man schafft prekäre Umstände, angeblich um Fluchtanreize zu reduzieren, schafft dadurch aber erst die Ursache für die Probleme mit Migranten.

    Denn der Grund für die Probleme mit Migranten sind nicht die Menschen, sondern die Umstände. Bestes Beispiel ist Kriminalität in Sammeleinrichtungen.



    Indem man suggeriert, die Menschen seien das Problem, werden Lösungen entwickelt, die sich damit befassen, wie man Menschen los wird. Das klappt aber nicht. Menschen loswerden mündet am Ende einer langen Eskalationsspirale im Völkermord, siehe 1933-1945.

  • Leute, Leute, zwei Tage nach dieser (erneuten) Katastrophe in Aschaffenburg insinuieren Sie seitenlang, ob nicht doch Deutschland irgendwie selbst Schuld hat an der Ermordung der beiden Menschen. Weil vorher war ja scheinbar alles in Ordnung, Deutschland hat ihn ja erst zum Mörder gemacht. Mit dieser Haltung fahren Sie so ziemlich alles an die Wand und lassen Menschen sprachlos zurück. Sie reihen sich ein in genau die gleichen, schlimmen Diskussionen, wie sie immer nach solchen Taten geführt werden. Die einen schreien Ausländer raus und Sie relativieren und verdrehen hier bis zum Erbrechen.



    In erster Linie ist hier in aller Klarheit zu benennen, dass es sich um einen zweifachen Mord in abscheulichster Art und Weise handelt, für den dieser Mensch aus Afghanistan die Verantwortung mit allen Konsequenzen zu übernehmen hat - Punkt!



    Beim Lesen Ihres "Interviews" gruselt es mich von der ersten bis zur letzten Zeile!

    • @Demokratischer Segler:

      Haben wir das selbe Interview gelesen?



      Wo wird hier die Tat relativiert?



      Es geht darum, dass die Tat (soweit man das bisher beurteilen kann) mit größerer Wahrscheinlichkeit hätte verhindert werden können, wenn man eben nicht "Ausländer raus" ruft, sondern nach den tatsächlichen Problemen fragt.



      Im vorliegenden Fall scheint es um einen Menschen zu geben, dem man hätte helfen können, kein Gewalttäter zu werden. Ein Mensch, der genau in dem Bereich arbeitet, der für den nun doch gewalttätig gewordenen Menschen so wichtig gewesen wäre, erklärt, wie man die Wahrscheinlichkeit für Gewalt am besten verringert.



      Der Blick in die Schlagzeilen zeigt: Die Politik macht gerade das Gegenteil von dem, was Experten raten.



      Und dann wundert man sich, wenn die Gewalt mehr statt weniger wird.

      • @Herma Huhn:

        Zwei Tage nach dieser abscheulichen Tat ist dieses Interview an Zynismus nicht zu überbieten! Das ganze Interview ist zu diesem Zeitpunkt eine Relativierung.... was ist es denn sonst, wenn ich nicht klar benenne, wer hier der Mörder ist und die Verantwortung zu übernehmen hat! Nichts anderes kann zu diesem Zeitpunkt eine Rolle spielen!

  • Es ist immer noch eine bewusste Entscheidung andere Menschen töten zu wollen, mit oder ohne Traumata. Das "blame game", dass Behörden die individuelle Verantwortung für Mord und Totschlag tragen, finde ich gefährlich.

    Außerdem - auch in Deutschland geborene Menschen haben bereits lange Wartezeiten auf Therapie und müssen viel Eigeninitiative und Geduld aufbringen, um einen Therapieplatz zu bekommen.

    Die veränderte Tektonik in der Geopolitik können wir hierzulande nicht mit Psychologie und dem Ausbau unseres Sozialstaates bewältigen. Ich würde mich freuen, wenn ein Perspektivenwechsel und Faktencheck in diese Richtung auch bei der TAZ Einzug halten würde.

    Genauso wenig wie ständiges und ewiges Wirtschaftswachstum logisch und zwangsläufig machbar ist, ist der unendliche Ausbau eines Sozialstaates machbar. Es wird immer Phasen der Korrektur, des Rückschritts, des Qualitätswandels und des Bruchs geben. Hier ist Resilienz und nüchterne Ehrlichkeit gefragt. Ehrlich müssen wir auch in den Axiomen der Migrations- und Flüchtlingspolitik sein.

  • Wenn man sich genauer ansieht wie viele dieser Menschen behandelt werden, dann kann man verstehen, dass sie psychisch krank werden. Das fängt schon mit den Kommentaren in den Medien, der Politiker*innen und erst recht in den un-sozialen Medien an. Auch die Behörden sind nicht über Zweifel erhaben. Ich helfe Geflüchteten bei deren Gang zu den Ämtern. Bin ich dabei, geht's ganz gut, bin ich es nicht, dann wird oft !!! schikaniert. Dass davon auf Dauer Wut, Enttäuschung und Resignation entsteht, das kann ich verstehen. Das soll beileibe nicht bedeuten, dass ich diese Terroranschläge zu rechtfertigen suche - im Gegenteil. Doch es soll darauf hinweisen, dass auch wir uns nicht verhetzen lassen oder gar selber hetzen....

  • Es ist immer, bei allen Kosten, die Frage inwieweit wir unserer Verantwortung nachkommen wollen und auch moralisch müssen. Wir sind ohne Frage zumindest Mitschuldig an den Ursachen der " Völkerwanderungen " dieser Welt.