Todesopfer nach Geiselnahme 2004: Russland wegen Beslan verurteilt
Der schlecht koordinierte militärische Sturm auf eine von Terroristen gekaperte Schule hat Menschenrechte verletzt.
Am 1. September 2004 griff eine Gruppe von 30 tschetschenischen und inguschischen Terroristen eine Schule in der nordossetischen Kleinstadt Beslan an. Dort wurde an diesem Tag der Beginn des Schuljahres gefeiert, so dass neben den Schülern und Lehrern auch viele Eltern in der Schule waren.
Die Terroristen nahmen 1.100 Menschen als Geiseln, davon 800 Kinder. Die Angreifer forderten den Rückzug russischer Truppen aus Tschetschenien, die Freilassung von inhaftierten Terroristen sowie den Rücktritt von Präsident Wladimir Putin.
Als Verhandlungen scheiterten und die Terroristen die Geiseln bei großer Hitze weitgehend unversorgt ließen, stürmten russische Sicherheitskräfte die Schule. Am Ende von mehrstündigen Feuergefechten waren rund 330 Menschen tot, auch fast alle Geiselnehmer.
Klage von 409 Opfern und Angehörigen
In Straßburg klagten 409 ehemalige Geiseln und Angehörige von Getöteten. Sie wurden teilweise von der Menschenrechtsgruppe Memorial unterstützt. Das Urteil sprach eine siebenköpfige Kammer unter Vorsitz des griechischen Richters Linos-Alexandre Sicilianos.
Einstimmig stellten die Richter fest, dass die russischen Behörden zu wenig getan hatten, um den terroristischen Angriff zu verhindern. Obwohl es Informationen gab, dass in der Gegend ein Angriff im Zusammenhang mit dem Schuljahresbeginn geplant war, waren die Sicherheitsmaßnahmen an den Schulen nicht erhöht worden. Auch waren Schulen und Öffentlichkeit nicht gewarnt worden.
Mit fünf zu zwei Richterstimmen monierten die Richter eine mangelhafte Planung und Koordination der Sicherheitsmaßnahmen nach dem Angriff. Da es keine klare Kommandostruktur gegeben hatte, arbeiteten die unterschiedlichen Sicherhheitskräfte teilweise unkoordiniert nebeneinander her. An der Befreiung der Schule waren Polizei, Armee, Omon-Sondereinheiten und FSB-Geheimdienstkräfte beteiligt.
Kritik am Einsatz militärischer Waffen
Ebenfalls mit fünf zu zwei Richterstimmen kritisierte Straßburg den Einsatz militärischer Waffen wie Panzerkanonen, Granat- und Flammenwerfer. Die Europäische Menschenrechtskonvention verbiete den Einsatz von Gewalt, soweit er nicht absolut notwendig ist.
Der Einsatz von militärischen Waffen habe zu unnötigen Todesopfern geführt, insbesondere weil Terroristen damit nicht gezielt angegriffen werden konnten. Möglicherweise war auch der Einsturz des Schuldachs auf den Einsatz dieser Waffen zurückzuführen.
Gericht: Aufklärung mangelhaft
Auch die Aufklärung der tragischen Ereignisse hielten die Straßburger Richter für mangelhaft. Bei einem Drittel der Opfer konnte nicht geklärt werden, wie und von wem sie getötet wurden.
Bis heute gebe es auch keine gesetzlichen Regeln, die den Einsatz von Gewalt sinnvoll begrenzen. Stattdessen könne die Zusicherung von Straflosigkeit bei Anti-Terror-Maßnahmen dazu führen, dass aus dem Desaster von Beslan nicht ausreichend gelernt wird.
Russland kritisierte das Urteil umgehend. Die Schlussfolgerungen des Gerichts seien inakzeptabel. Russland kann jetzt gegen den Richterspruch noch Rechtsmittel zur 17-köpfigen großen Kammer des Gerichtshofs für Menschenrechte einlegen.
Az.: 26562/07 u.a.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“