Tschetschenischer Anwalt im Interview: „Glieder einer Kette“

Abubakar Jangulbajew ist Menschenrechtler und Anwalt. Er spricht über die Dekolonisierung Russlands und den Überfall auf die russische Journalistin Jelena Milaschina.

Journalistin Jelena Milaschina mit verbundenen Händen und Wunden im Gesicht

Die von tschetschenischen Sicherheitskräften misshandelte russische Journalistin Jelena Milaschina Foto: Anna Artemyeva/AP

Zarema Musajewa, die Ehefrau des pensionierten Bundesrichters Saidi Jangulbajew und Mutter des tschetschenischen Menschenrechtsaktivisten und Anwalts Abubakar Jangulbajew, wurde am Dienstag von einem tschetschenischen Gericht zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt. Musajewa war Anfang 2022 von tschetschenischen Sicherheitskräften aus Nischnij Nowgorod nach Grosny verschleppt worden. Ihre Söhne, Abubakar, Ibragim und Baysangur sind allesamt lautstarke Kritiker des tschetschenischen Führers Ramsan Kadyrow, weshalb die Familie in den letzten zehn Jahren zunehmend Drohungen und Verfolgung ausgesetzt war.

taz: Herr Jangulbajew, am Dienstag wurde in Grosny Ihre Mutter, Zarema Musajewa, zu fünfeinhalb Jahren verurteilt. Kurz vorher haben Unbekannte die Journalistin Jelena Milaschina und den Anwalt Alexander Nemow angegriffen und schwer misshandelt, als sie auf dem Weg zu diesem Prozess waren. Was glauben Sie, wer diesen Angriff angeordnet hat und wer hinter der Entführung Ihrer Mutter im letzten Jahr steckt?

Abubakar Jangulbajew

ist ein tschetschenischer Menschenrechtler und Anwalt. Er und seine beiden Brüder haben Tschetschenien 2017 und Russland 2021 nach wiederholten Drohungen aus dem Umfeld Kadyrows verlassen.

Abubakar Jangulbajew: Hinter dem Angriff und der Entführung steckt dieselbe Person wie auch hinter all den anderen Angriffen auf Menschenrechtler und unabhängige Journalisten in den Jahren zuvor. Für mich sind die Angreifer, Organisatoren und ihre Auftraggeber dasselbe – Ramsan Kadyrow und sein System. Er verheimlicht es nicht einmal, sondern kündigte solche Angriffe vermehrt öffentlich in seinen aggressiven Ausfällen an.

Vor ein paar Tagen wurde auch gegen Sie ein Verfahren wegen Extremismus eingeleitet. Was waren die Gründe dafür?

Dieses Verfahren wurde eröffnet, nachdem ich zusammen mit Freunden eine politische und nachrichtliche Onlineplattform mit dem Namen „Kost“ (tschetschenisch für Botschaft) gegründet habe. Dort schrieben wir von den genozidalen russischen Angriffskriegen gegen Tschetschenien, die etwa 300.000 Todesopfer auf tschetschenischer Seite forderten. Gleichzeitig gibt es keine Informationen darüber, wie viele verletzt wurden, wie hoch der Sachschaden gewesen und wie viel Infrastruktur zerstört worden ist. Von Russland wurden bis heute keine Untersuchungen diesbezüglich durchgeführt, obwohl es eine Menge Beweise gibt und der europäische Gerichtshof für Menschenrechte mehrere Hundert Fälle diesbezüglich vorliegen hat. Auch Memorial und Human Rights Watch haben Russland für seine Verbrechen in Tschetschenien angeklagt. Wir wollen die Wahrheit und die Anerkennung dieser Kriege als Genozid. Auf unserer Plattform haben wir außerdem an tschetschenische Dissidenten und ihren Widerstand gegen die russische Kolonisation des Kaukasus Ende des 19. Jahrhunderts erinnert. Der Regierungssitz Kadyrows ist buchstäblich auf ihren Gräbern erbaut.

Sie betonen in Ihrer Arbeit das Recht auf Unabhängigkeit für Tschetschenien und unterstützen dekoloniale Bewe­gungen in der Russischen Föderation.

Ich unterstütze das Selbstbestimmungsrecht der Völker gemäß den Vereinten Nationen. Wenn Russland wirklich als Föderation existieren will, dann sollte es Referenden in allen Regionen geben, damit Menschen über ihre Zugehörigkeit zu Russland abstimmen können. Während westliche, ehemalige Imperien ihre Kolonien hinter sich ließen, verweigerte Russland beziehungsweise die Sowjetunion im 20. Jahrhundert das Eingeständnis, jemals imperial gewesen zu sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und den Unabhängigkeitserklärungen etlicher ehemaliger Sowjetrepubliken, gab es Wahlen in Tschetschenien, das daraufhin mit dem Segen von Gorbatschow souverän wurde. Auch Tatarstan hatte den Willen zur Unabhängigkeit von Russland bekundet und Wahlen durchgeführt. Trotzdem marschierte Russland 1994 in Tschetschenien ein und beendete damit den dekolonialen Prozess in ganz Russland. Nach einem fast 20-jährigen Krieg bekamen wir ein vom Kreml installiertes Regime, um Tschetschenien in der Russischen Föderation zu halten.

Ramsan Kadyrow ist heute an der Macht in Tschetschenien. Was glauben Sie, wie groß ist sein Rückhalt noch in der tschetschenischen Bevölkerung?

Er genießt keine breite Unterstützung. Egal welcher politischen Ideologie die Leute anhängen oder welcher gesellschaftlichen Schicht sie angehören, sie können ihn nicht ausstehen. Und sie machen auch keinen Unterschied zwischen Ramsan und Wladimir.

Welche Gemeinsamkeiten gibt es zwischen der Ukraine und Tschetschenien?

Das, was heute in der Ukraine passiert, die Kriege, die Russland auch in Georgien und Syrien führte, die Revolutionen, die Russland in Kasach­stan, Belarus unterdrückte – all das sind Glieder einer Kette. All das begann in Tschetschenien. Russland hatte anfangs versprochen, demokratisch zu sein, hat seinen Weg aber mit kriegerischer Aggression in Tschetschenien begonnen. Bombardierungen, Folter, Vergewaltigung, Filtrationslager, Plünderungen, Hinrichtungen, Propaganda. All diese Kriege tragen die gleiche Handschrift. Der Unterschied ist, dass die Ukraine 40-mal größer ist als Tschetschenien und ihr westliche Unterstützung zuteil wird. Niemand scherte sich damals um Tschetschenien, trotzdem gewannen wir den ersten Krieg gegen Russland.

Nur wenige Menschen in Deutschland sind sich der verbrecherischen Kriege Russlands gegen Tschetschenien bewusst. Wie viel wissen die Russen selbst darüber?

Der Großteil der Russen denkt, dass man in Tschetschenien gegen Terroristen gekämpft hat, wenn sie überhaupt etwas wissen. Selbst wenn man anerkennt, dass es in Tschetschenien Terrorismus gegeben hat – was 2004 in Beslan passierte, steht außer Frage – hat Russland damit begonnen, Terroranschläge zu inszenieren, um den Krieg gegen Tschetschenien zu rechtfertigen, und gleichzeitig Tschetschenen qua Nationalität zu Terroristen erklärt. Außerdem bombardierte Russland täglich Dörfer und Moscheen, tötete Kinder, Frauen und Alte, führte Massenerschießungen durch. Das ist Terror. Wenn ich darauf hinweise, reagieren selbst liberale Russen empört. Die Propaganda hat auch hier gewirkt. Außerdem haben ihre Väter in diesem Krieg gekämpft.

Wie stark schätzen Sie die dekoloniale Bewegung in Russland ein?

Ich glaube, sie wurde erst geboren und wird immer lauter. Zu ihrem Tätigkeitsbereich gehört die Analyse dessen, wie viele und wie überproportional häufig Angehörige von Minderheiten in den Krieg gegen die Ukraine geschickt werden, wie viele von ihnen sterben, wie viel schlechter sie ausgerüstet sind. Außerdem stellen sie die Frage danach, wohin die Gelder für die Entwicklung ihrer Regionen verschwinden. Trotzdem fühlen sich nicht alle Angehörigen ethnischer Minderheiten zugehörig zu dieser Bewegung. Denn im politischen Sinne sind sie noch immer Repräsentanten Russlands. Ich denke, dass sich die Bewegung trotz der Repressionen stabilisieren wird. Die Zukunft Russlands liegt im heutigen Tschetschenien. Das bedeutet nicht, dass überall in Russland irgendwann der Hidschab auf den Straßen getragen wird. Es geht hierbei um die Menschenrechtslage und Militarismus. Alles, was in Tschetschenien kultiviert und ausprobiert wird, wird irgendwann auch auf ganz Russland angewandt. Zum Beispiel war es schon 2015 verboten, Kadyrow zu kritisieren, jetzt gilt dies für Putin in ganz Russland so. Aktuell können wir die Erosion der Frauen- und LGBT-Rechte beobachten. Und ich denke, wenn Tschetschenien irgendwann frei sein wird, wird auch Russland frei sein.

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