piwik no script img

Todesfälle von wohnungslosen MenschenUn­sichtbare Leichen

Wohnungslose Menschen werden immer wieder Opfer von tödlicher Gewalt. Eine taz-Recherche rekonstruiert die bestätigten Todesfälle von 2022.

Beliebt, da zumindest trocken: Lager von Wohnungslosen unter einer Brücke in Berlin Foto: Stefan Zeitz/imago

Mindestens 16 wohnungslose Menschen wurden 2022 in Deutschland getötet. Grundlage für die Recherchen der taz waren Daten der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. Jedes Jahr sammelt der Verein in einer systematischen Medienanalyse die Gewaltfälle gegen wohnungslose Menschen in Deutschland. Dabei werden alle Fälle aufgelistet, über die in regionalen und überregionalen Medien berichtet wird.

Wohnungslose Menschen werden bespuckt und beschimpft, ihre Schlafplätze werden angezündet, sie werden Opfer von Raubüberfällen, Farbattacken oder Messerattacken. Viele der Taten bleiben straffrei. Die BAG Wohnungslosenhilfe e. V. kommt auf eine dreistellige Zahl an Gewaltvorfällen für das Jahr 2022. Klar ist, dass die Dunkelziffer deutlich höher ist, weil über viele Gewalttaten nicht berichtet wird.

Die tödlichen Gewalttaten der Dokumentation hat die taz recherchiert und mit zuständigen Polizeibehörden und Staatsanwaltschaften gesprochen. Nicht immer gab es in der Recherche eindeutige Ergebnisse.

Wie im Fall eines 64-jährigen obdachlosen Mannes in Berlin. Dieser sollte im September von Polizisten aus einem Heim in ein Krankenhaus verlegt werden, dabei brach er zusammen, fiel ins Koma und starb kurz darauf im Krankenhaus. Der Fall wurde im Kommissariat für Beamtendelikte im Landeskriminalamt untersucht. Der Opferverband ReachOut wirft der Polizei brutale Gewalt im Umgang mit dem Schwarzen Mann vor und beruft sich dabei auf Zeugenaussagen.

Die Polizeipräsidentin Barbara Slowik sagte damals, der Mann sei „unerwartet kollabiert“. Auf Anfrage der taz sagt die Berliner Staatsanwaltschaft heute, dass eine Leichenschau „keine Anhaltspunkte für ein Fremdverschulden“ ergeben habe. Die Todesursache bleibt ungeklärt. Der Fall taucht deswegen nicht in der Dokumentation der taz auf.

Die dokumentierten Fälle zeigen tödliche Gewalt in Obdachlosenunterkünften, bei Polizeieinsätzen oder auf der Straße. Die Tä­te­r*in­nen sind selbst wohnungslose Menschen, Verwandte oder bislang Unbekannte. Sie zeigen, dass das Leben von obdachlosen Menschen nicht sicher ist.

Nicht nur Gewalt durch Behörden und andere Menschen sind eine Gefahr für sie. Hitze, Kälte, Drogen oder unbehandelte Krankheiten und eine Politik, die sie nicht davor schützt, können zum Tod führen. Wie viele wohnungslose Menschen 2022 durch diese Umstände gestorben sind, ist nicht bekannt.

1. Frankfurt am Main: Am 22. Januar wird auf einem Brachgelände am Frankfurter Ostbahnhof in einem Wohnwagen die Leiche einer 40-jährigen Frau gefunden. Ermittlungen der Polizei ergeben, dass sie vor der Tötung Opfer sexualisierter Gewalt wurde. Der 38-jährige Tatverdächtige ist ebenfalls wohnungslos und sitzt seit einem Jahr in Untersuchungshaft. Einen Prozesstermin hat das Gericht bislang nicht anberaumt.

2. Frankfurt am Main: Am 12. März stirbt ein 45-jähriger Mann an schwerwiegenden Schädelverletzungen. Seine Leiche wird gut eine Woche nach der Tötung in einem Barackenlager gefunden. Ein 44-jähriger ebenfalls wohnungsloser Mann soll ihn im Streit mit einem oder mehreren Gegenständen geschlagen haben. Er konnte im Dezember festgenommen werden und sitzt seitdem in Untersuchungshaft. Die wegen des Verdachts des Totschlags geführten Ermittlungen dauern an.

3. Sigmaringen: Am 18. März tötet ein 60-jähriger Mann in einer Obdachlosenunterkunft einen 28-jährigen Mann mit einem Messer. Zuvor war es zum Streit zwischen den zwei Männern, die beide in der Unterkunft lebten, gekommen, es ging dabei auch um zu laute Musik. Gegen den Täter ist wegen Totschlags eine Gefängnisstrafe von zehn Jahren verhängt worden, er sitzt in Haft.

4. Neuss: Am 22. April wird in einem provisorischen Nachtlager die Leiche eines 31-jährigen mit zwei Stichwunden in der Brust gefunden. Tatverdächtig ist ein 18-Jähriger, der zuerst als Zeuge auftrat und einen anderen Mann belastete. Im Zuge der Ermittlungen verdichtete sich die Beweislage gegen den jungen Mann. Es wurde ein Haftbefehl gegen den ebenfalls Wohnungslosen erwirkt, das Motiv ist noch Gegenstand der laufenden Ermittlungen.

5. Düsseldorf: Am 26. April wird im Parkhaus am Flughafen Düsseldorf die Leiche eines obdachlosen Menschen entdeckt. Die Obduktion legt eine Gewalttat nahe. Ein Tatverdächtiger konnte bislang nicht ermittelt werden, das Motiv ist unklar. Die Ermittlungen dauern an.

6. Berlin: Ein 39-jähriger Mann stirbt am 27. April nach einem Polizeieinsatz in Treptow-Köpenick. Bei einer „Durchsetzung eines Aufenthaltsverbots“ in einem Hausdurchgang eine Woche zuvor fixierten Beamte den Mann am Boden und setzten Pfefferspray ein, nachdem dieser sich gewehrt hatte. Das Verfahren wegen des Verdachts der Körperverletzung wurde eingestellt, die Ermittlungen kamen zum Schluss, dass der Einsatz des Pfeffersprays wegen einer „Notwehrlage“ gerechtfertigt war.

7. + 8. Offenburg: Am 31. Juli soll eine 44-jährige Frau in einem städtischen Obdachlosenheim ihre Schwester und ihre Tochter mit verschiedenen Küchenutensilien getötet haben. Dem war ein Streit vorausgegangen. Die Staatsanwaltschaft hat wegen des Vorwurfs des zweifachen Totschlags Anklage vor dem Landgericht Offenburg erhoben.

9. Frankfurt am Main: Am 2. August soll ein 23-jähriger Mann bei einem Polizeieinsatz im Frankfurter Bahnhofsviertel getötet worden sein. Der Mann soll mit einem Messer mehrfach auf einen Diensthund eingestochen haben. Er verstarb nach einem Schuss noch am Tatort. Die Ermittlungen gegen den Polizeibeamten wegen des Verdachts des Totschlags geführten Ermittlungen dauern noch an.

10. Köln: Am 3. August stirbt ein 48-jähriger Mann bei einem Polizeieinsatz im Zuge einer Zwangsräumung. Die Ermittlungen wurden eingestellt, „da der Schusswaffeneinsatz der Polizeibeamten durch das Notwehrrecht gerechtfertigt war“. Der Mann war mit einem Messer bewaffnet.

11. Dillingen: Am 6. Oktober wird ein 45-jähriger wohnungsloser Mann tot in der Wohnung des Vaters der mutmaßlichen Täterin gefunden. Die 39-jährige Tatverdächtige soll nach einem Streit mit einem Messer auf ihn eingestochen haben, er starb noch am Tatort. Die Staatsanwaltschaft hat Anklage wegen Totschlags erhoben.

12. Düsseldorf: Am 10. Oktober wird ein obdachloser Mann bewusstlos an einer Unterführung im Stadtteil Benrath gefunden, kurz darauf stirbt er im Krankenhaus. Eine Obduktion ergab, dass „äußere Einwirkungen auf den Körper“ zum Tod geführt haben. Die Ermittlungen dauern an.

13. Krefeld: Am Abend des 28. November wurde ein 42-jähriger Mann in der Innenstadt durch einen Schuss in den Hinterkopf getötet. Die Polizei fahndet nach zwei Männern. Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen.

14. Mannheim: Am 10. Dezember entdeckt ein Passant die Leiche eines 37-jährigen Mannes in der Nähe des Neckarufers. Im Rahmen einer Obduktion wurden Hinweise auf eine Fremdeinwirkung durch stumpfe Gewalt bestätigt. Tatverdächtig ist ein ebenfalls obdachloser 25-jähriger Mann, er befindet sich in Untersuchungshaft und äußert sich nicht zu den Vorwürfen. Ein Motiv ist nicht bekannt.

15. Kehl: Am 22. Dezember wird ein 45-jähriger Mann in einer Obdachlosenunterkunft in Kehl getötet. Die Tatverdächtige ist eine 46-jährige Frau, ein Motiv steht bislang nicht fest. Die Ermittlungen laufen derzeit noch.

16. Berlin: Am 21. Dezember wurde in einem leer stehenden Schwimmbad in Berlin-Mitte die Leiche eines 40-jährigen Mannes gefunden. Eine Mordkommission ermittele wegen des Verdachts einer Körperverletzung mit Todesfolge. Die Ermittlungen laufen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

5 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Bislang lese ich immer nur Klagen und Jammern, aber keine durchführbere Abhilfe beim Thema Obdachlosigkeit.



    Abhilfe - Vorschläge sind alle sehr teuer, sehr langsam und benachteiligen die Arbeiterklasse auf dem Wohnungsmarkt.



    Ich fordere die Sozial-Lobby auf, für die verschiedenen Klassen von Obdachlosen bzw. Problemfälle realistische Lösungen vorzustellen.

    • @Christoph Strebel:

      Es wird schon lame, das immer zu wiederholen, aber Beispiele wie Finnland oder sogar (!) einige US-Großstädte zeigen, dass es anders geht. Nun lässt sich nicht alles abgucken, vor allem wenn man nicht mal hinsehen mag, wie könnte es schließlich sein, dass man ausgerechnet mit sowas manch anderswo besser umgeht als im doch so "sozialen" und eingebildet progressiven Deutschland. Die eigentliche Hürde ist aber wie so oft das Wollen. Und gerade solche Kommentare bilden das find ich gut ab. Als ob es nicht Menschen gäbe, die sich über Jahre, Jahrzehnte mit sowas beschäftigen, beruflich, professionell, auch akademisch. Die "Sozial-Lobby" ist das noch nicht, auch keine Lobby der hier Betroffenen, die haben nämlich notorisch keine. Manchmal geht es auch einfach darum, Probleme zu lösen, zumal wo sie ja auch ausstrahlen, in öffentliche Ordnungs-, Hygiene- und Sicherheitsfragen, sind Einzelhändler betroffen, Immobilienbesitzer, der Tourismus, u.v.m. Arbeiterklasse ist ein Begriff aus dem vorletzen Jahrhundert. Vielleicht mal updaten, dann stellen sich viele Fragen gar nicht mehr. Umsonst wird's deshalb nicht gehen, das ist ja wohl aber klar.

      Suizid wurde oben vergessen. Kaum beleuchtetes Kapitel, hat auch Gründe nehme ich an, ganz schwerer Zugang oder an entspr. Daten zu kommen ist nur einer. Die Betroffenen sind häufig älter, auch immer noch überwiegend männlich, und dann eben auch oft krank, vor allem chronisch, das kann man nicht ausblenden. Und dann gibt es Fälle, wo das kaum noch voneinander zu trennen ist. Wenn einer etwa völlig vereinsamt und verwahrlost in irgend einer notdürftigen Behausung, grad außerhalb größerer Städte, einfach das Essen einstellt und/oder Flüssigkeitsaufnahme. Oder sich irgendwann nix mehr holt. Und auch nicht nach Hilfe ruft oder rufen kann. Obwohl er körperlich gesund ist und auch nicht jedenfalls psychotisch. Verhungert. Weil sich niemand kümmert. Sowas passiert mitten in Deutschland, aber in der Zeitung steht das natürlich nicht.

  • Wäre es nicht ein bisschen empathischer gewesen, von unsichtbaren Opfern zu schreiben, als von Leichen?

    Unter einer Leiche kann man einen toten Menschen oder ein totes Tier verstehen. Bei toten Menschen spricht man von einem Leichnam.

    • @Jim Hawkins:

      Tatsächlich? Mir kommt bei dem Wort "Leiche" ein toter Mensch in den Sinn, tote Tiere wären "Kadaver".



      Bei "unsichtbaren Opfern" wiederum muss man nicht unbedingt annehmen, dass Tod involviert ist - aber genau darum ging es ja im Artikel.

  • Wohnraum wird immer knapper. Aktuell sind alle mit der Schaffung und Verwaltung von Wohnraum Beteiligten nervös. Es gibt keine Wohnungen mehr.



    Apelle an übergeordnete Stellen bis hin zum Bund fruchten nicht.



    Und so wundert es nicht, das die Wohnungslosen auf dem letzten Platz gelandet sind, im Freien. Ich stelle mir schon die Frage, warum es ein Ranking bei Wohnungen gibt, warum es unterschiedliche Beurteilungen bei Geflüchteten gibt. Und wer trifft die Entscheidungen?