Bahnhofsmissionen in Deutschland: Mehr Bedarf, weniger Spenden

Wegen der Inflation kommen immer mehr Menschen zu den Anlaufstellen an den Bahnhöfen. Gleichzeitig erhalten die Missionen immer weniger Sachspenden.

Heike Müller, Leiterin der Bahnhofsmission Halle (Sachsen-Anhalt), steht am auf einem Bahnsteig am Hauptbahnhof in Halle

Andrang vor Weihnachten: die Bahnhofsmission in Halle Foto: epd/imago

LEIPZIG taz | Die Bahnhofsmissionen in Sachsen und Sachsen-Anhalt verzeichnen einen erhöhten Zulauf. Manche Einrichtungen haben Probleme, die Lebensmittel zu finanzieren. Dabei sind sie für viele die erste Anlaufstelle: Wer durchgefroren ist, Hunger, Durst, kaputte Kleidung oder keinen Schlafplatz für die Nacht hat, bekommt hier voraussetzungslos Hilfe.

Dass die Bahnhofsmissionen in Sachsen und Sachsen-Anhalt an ihre Kapazitätsgrenzen kommen, liegt vor allem an der hohen Inflation. Sie verursacht mehr armutsbetroffene Menschen als sonst – mehr Menschen, die vorbeikommen, um ein belegtes Brot zu essen und etwas Heißes zu trinken. Zudem muss die Bahnhofsmission mehr Geld für Wurst, Käse, Margarine, Kaffee und Tee ausgeben. Mancherorts bekommen die Einrichtungen auch weniger Spenden als gewöhnlich.

„An Erntedank haben wir dieses Jahr nur ein Viertel von dem erhalten, was wir sonst über die Kirchen an Lebensmittelspenden bekommen“, berichtete Anfang Dezember Benita Lanfermann von der Bahnhofsmission Dessau in Sachsen-Anhalt. Auch Geldspenden erhalte die Einrichtung weniger. „Viele ältere Menschen, die uns in der Vorweihnachtszeit immer 50 Euro gespendet haben, können es dieses Jahr nicht mehr“, sagt Lanfermann.

Bahnhofsmissionen existieren seit über 125 Jahren in Deutschland. Die Einrichtungen, die von der evangelischen und der katholischen Kirche getragen werden, zählen zu den wichtigsten Anlaufstellen für Menschen in existenziellen Notlagen. Die Mit­ar­bei­te­r:in­nen und Ehrenamtlichen in den blauen Westen verteilen belegte Brote und Heißgetränke, informieren darüber, wo man eine warme Mahlzeit bekommt und duschen kann, vermitteln an Unterkünfte, Ämter oder Suchtberatungsstellen – und vor allem: Sie sprechen mit den Menschen über ihre Sorgen und Nöte.

Hartz-IV-Empfänger:innen und Rent­ne­r:in­nen

Bundesweit gibt es mehr als hundert Bahnhofsmissionen, neun davon sind in Sachsen und Sachsen-Anhalt. Die taz hat vor Weihnachten mit acht von ihnen über die Auswirkungen der Inflation auf ihre Arbeit gesprochen (die Bahnhofsmission Stendal in Sachsen-Anhalt hat sich bis Redaktionsschluss nicht zurückgemeldet). Die Umfrage zeigt: Alle acht Bahnhofsmissionen beobachten einen erhöhten Andrang.

„Wir merken es vor allem am Nachmittag“, erzählt die Leiterin der Bahnhofsmission Halle, Heike Müller, am Telefon. „Da kommen 10 bis 20 Menschen mehr als sonst um diese Jahreszeit – Menschen, die morgens schon bei uns gefrühstückt haben und nachmittags wieder hungrig und durstig sind.“ Die Bahnhofsmissionen Chemnitz, Görlitz und Leipzig registrieren ebenfalls 10 bis 20 Personen mehr pro Tag.

Fast alle Bahnhofsmissionen führen den hohen Zulauf auf die gestiegenen Energie- und Lebensmittelpreise zurück. „Zu uns kommen nicht mehr nur Menschen ohne Obdach, sondern auch viele Hartz-IV-Empfänger:innen, Rent­ne­r:in­nen und Menschen, die auf Mindestlohnbasis arbeiten“, sagt Sophie Wischnewski von der Bahnhofsmission Leipzig, die täglich von bis zu hundert Bedürftigen aufgesucht wird. „Für diese Menschen war es schon vor den gestiegenen Preisen schwer, über die Runden zu kommen. Jetzt reicht ihr Geld vorne und hinten nicht mehr.“

Monika Zeuner von der Bahnhofsmission Chemnitz erzählt Ähnliches. Von den rund 70 Leuten, die pro Tag vorbeikämen, erhielten die meisten Hartz IV oder eine niedrige Rente. „Die Menschen haben große Existenzängste. Viele kommen zu uns, um sich aufzuwärmen“, sagt Zeuner. Auch die Bahnhofsmissionen Halle, Halberstadt, Görlitz, Dessau und Dresden versorgen überwiegend Hartz-IV-Bezieher:innen, Rent­ne­r:in­nen und Geringverdiener:innen. Menschen ohne Wohnung – das zeigt die taz-Umfrage – wenden sich vergleichsweise selten an die Bahnhofsmissionen.

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Weil mehr Leute die Bahnhofsmissionen aufsuchen, steigt der Bedarf an belegten Broten, Kaffee und Tee – was für manche Einrichtungen doppelt belastend ist. Die Bahnhofsmission Leipzig gibt wegen der gestiegenen Lebensmittelpreise 200 bis 300 Euro mehr pro Monat für Brot, Käse, Margarine und Wurst aus, wie Leiterin Sophie Wischnewski mitteilt. Auf die Frage, ob sie aufgrund der hohen Inflation Probleme haben, die Lebensmittel für die sogenannten Notbrote zu finanzieren, antworten drei der acht Bahnhofsmissionen – Dessau, Leipzig und Görlitz – mit Ja.

Juliane Nagel, Linke, sächsische Landtagsabgeordnete

„Wer selbst sparen muss, kann nicht mehr geben“

Neben Lebensmittel- und Geldspenden fehlt es mancherorts auch an Ehrenamtlichen und an Sachspenden. „Wir benötigen vor allem Winter­jacken für Männer, Handschuhe, Rucksäcke und Schlafsäcke“, sagt Wischnewski aus Leipzig. In Dessau hingegen mangelt es obendrein an Ehrenamtlichen und Mitarbeiter:innen. „Was nutzen uns die Spenden, wenn wir keine Zeit haben, sie zu verteilen?“, sagt Leiterin Benita Lanfermann am Telefon, während sie den Boden wischt.

Die sächsische Landtagsabgeordnete Juliane Nagel (Linke) bezeichnet die aktuelle Lage in vielen Bahnhofsmissionen als dramatisch. „Hier zeigen sich die Auswirkungen der inflationsbedingten Preissteigerungen mit aller Wucht. Wer selbst sparen muss, kann nicht mehr geben, und wer nichts mehr hat, ist auf Anlaufstellen wie die Bahnhofsmissionen oder Tafeln angewiesen.“

Nagel fordert einen Inflationsaufschlag bei der Förderung sozialer Träger sowie mehr Unterstützung von armen und armutsgefährdeten Menschen: „Eine Grundsicherung von mindestens 725 Euro, armutsfeste Löhne statt des mickrigen Bürgergeldes und ein Verbot von Wohnungskündigungen und Zwangsräumungen.“

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